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Jun 30 15

Zeruya Shalev: Schmerz

Claus Brunsmann

Seit ihrem ersten Roman „Liebesleben“ (2000) gilt die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev als Spezialistin für die ambivalente Abhängigkeit, die Gefühle und Triebe verursachen können. Die Geschichte über eine junge Frau, die sich fast devot einem älteren Mann hingibt und in der Beziehung verliert, ist in eben jenem manischen Gedankenrausch verfasst, der weitere Romane prägte – jetzt auch den neuen Roman „Schmerz“. Ein punktarmer, geschmeidiger, fließender Stil, der verstört, ärgert, fasziniert – aber selten kalt lässt. Die Erzählstimme ist diesmal ganz bei Iris, einer verheirateten Frau, erfolgreiche Schuldirektorin und Mutter zweier schon fast erwachsener Kinder. Omer, der jüngere, fröhlichere, geht noch zur Schule. Alma, die ältere, verschlossenere Tochter, ist gerade ausgezogen. Zum Ehemann Micki gibt es kaum mehr zärtlichen Kontakt. Die Familie hat sich verändert, seitdem Iris vor zehn Jahren bei einem Terroranschlag verletzt wurde.

Die Vergangenheit rauscht in diese bald atemlos gelebte Gegenwart mit schweren Brocken ungelöster Schuld; eine Lawine, die in Fahrt gerät, als Iris ihre alte Liebe Eikan wiedertrifft: Er ist ihr neuer Therapeut, eine Koryphäe auf dem Gebiet Schmerz. Von ihm gerettet zu werden, liegt so nah wie in einem Arztroman. Und tatsächlich hat auch Eikan eigentlich Iris immer geliebt, obwohl er den Schlussstrich zog. Eine neue Chance? Sie speichert ihn im Handy unter dem Stichwort „Schmerz“ ab, in der vagen Hoffnung, dass der, welcher Schmerz in der Liebe säte, ihn auch wieder wegzaubern kann. Unter hohem Grippefieber wachsen die „Ehebruchsbazillen“ ungehemmt und choreografieren im Erostakt die erste Romanhälfte. Doch Iris befindet sich mit ihrer geheim gehaltenen Affäre nicht nur auf einem Selbstverwirklichungstrip, sondern auf einer erschütternden Reise in die Vergangenheit: Damals war sie die unterstützende Freundin an Eikans Seite, als dessen Mutter starb. Weil Eikan die dunkle Zeit mit Iris verband, beendete er anschließend die Beziehung, „wie man vor dem Todesengel flieht“. Lässt sich darauf aufbauen?

Die dramatische Zuspitzung und Zusammenführung dieser Erzählstränge ist einer der vielen Gründe dafür, dass man den Roman nicht mehr aus der Hand legen kann. Mit zügellosen Assoziations- und Interpretationsketten wühlt er sich aus Iris‘ marterndem Gedankenkarussel heraus und stellt dabei die großen Lebensfragen. Was steht ihr zu – als Frau, als Mutter, als Mensch? Worauf soll sie verzichten, für was büßen? Oder einfach greifen nach dem zentralen Baustein, nach Eikan, um den sich ein neues Lebensgerüst aufbauen ließe? Denn vielleicht war ihr Leben mit Micki von Anfang an falsch.

Die religionsgeschichtliche Dimension dieser schicksalsträchtigen und eben deshalb völlig unkitschigen Beziehungsverschiebungen ist immens. Tora- und Bibelkundig, würde man einige Leitmotive entschlüsseln können. Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren und studierte Bibelwissenschaftlerin, bespielt uralte Themen in diesem großen Roman, an dem sie vier Jahre arbeitete. Wie ein schwerer Bass zieht sich beispielsweise das Motiv der Opferung durch diese Geschichte. Während die Mutter sich leidenschaftlich freiliebt, öffnet sich der Blick immer mal kurz auf die Tochter Alma. Sie scheint in der Stadt, wo sie wohnt, nicht in guter Gesellschaft, vielleicht gar in den Fängen einer Sekte. Die Gewalt hat sich bis in die Beziehungen hineingeschlichen. Sie ist lesbar als Echo auf das Land Israel, auch als Echo sicherlich der eigenen Erfahrung, die Zeruya Shalev im Januar 2004 machen musste, als sie selbst Opfer eines Attentats wurde. Die Gewalt bleibt aber auch erkennbar als grundsätzliches Nebenprodukt ernsthaft gelebter Beziehungen: Wo zu viel Nähe ist, keimt sie lautlos heran. Doch wie Iris, diese suchende, ruhelose Frau, ist auch Alma blind für das ihr zugefügte Leid. Mutter und Tochter, obwohl so verschieden, scheinen einander spiegelbildlich gebaut.

Wie eine Künstlerin übersetzt Shalev diese von allen Seiten sich heranschiebende Düsternis mit großer Weitsicht in kleinste, unscheinbare Handlungen. Eine der wichtigsten Szenen und der erste Streit zwischen Eikan und Iris handelt vom Essen. Iris ist Vegetarierin. Eikan schiebt ihr dennoch per Kuss ein Fleischstück in den Mund, an dem sie würgt, obwohl sie zuvor noch in Erinnerungen schwelgte, wie sie ihre Tochter Alma als Baby fütterte. Das Nährende und Vernichtende, Liebe und Tod, Zärtlichkeit und Übergriffe sind jederzeit als Gegensatzpaare greifbar. In welche Richtung es jeweils kippt, macht die Grundspannung des Romans aus. Und man kann am Ende lange darüber diskutieren, ob hier ein biblisches Drama entfaltet wird oder doch eher eine Bilanz. Weder die eine noch die andere Lesart minderte die obsessive Wucht, mit der hier Themen und Fäden feinst gesponnen und auserzählt werden. Während immer fast zu spät rettende Maßnahmen erdacht werden, lässt sich die Herkunft des Leids bis zu den Wurzeln zurückverfolgen, so, als läge ein großer Fluch auf dem Land, das auch Töchter wie Alma zur Armee schickt. Verlor sie dort ihren Sinn für Freiheit? Entlastend wirken Spekulationen dieser Art immer nur für kurze Zeit. Dann nagt wieder das eigene Gewissen. Und es ist schließlich niemand anderes als Omer, der Sohn, auf den die Armee noch wartet, der klare, deutliche Sätze ohne Wenn und Aber sagt; Erkenntnisse wie von weit her: „Unsere Familie löst sich auf, oder?“.

In einem Interview erklärte die Autorin, warum in ihren Romanen kein Glück von Dauer ist. „Glück ist für Kinder. Erwachsene können nicht wirklich glücklich sein. Sie können für Momente glücklich sein.“ Die Abgründe, die sich danach eröffnen, sind maßlos und tief. Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende bekanntlich auch. Je nachdem, wie man es schließlich definiert. Die vielen Fragen und möglichen Antworten machen diesen neuen Roman Zeruya Shalevs zu einem großen, emotionalen Abenteuer.

Zeruya Shalev: Schmerz. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag, Berlin 2015, 320 Seiten, 24 Euro.

erschienen in der STUTTGARTER ZEITUNG, 2015

Mrz 30 11

Annette Pehnt: Hier kommt Michelle

Claus Brunsmann

Über dieses Buch kann man drei Geschichten erzählen. Die erste spielt in Freiburg, wo die Autorin Annette Pehnt („Insel 34“, „Mobbing“, „Haus der Schildkröten“) nicht nur lebt, sondern als Dozentin an der Pädagogischen Hochschule, die Lehrer ausbildet, markante Blicke auf studentische Frischlinge und den Unibetrieb wirft. Der tägliche Umgang hat sie zu einem kurzweiligen kleinen Roman über die ersten Semester einer solchen ehrgeizigen Studentin inspiriert, der eindeutig ironische Untertöne hat: „Hier kommt Michelle.“ Die Universität ist freilich ein hermetischer Raum, aus Yuccapalmen, Antragsstellern, frustrierten Dozenten, die, wo immer man sie trifft, gerne über die all zu frontal beschulte, neue, naive Generation jammern, die keine eigenen Fragen stellt, sondern nur Aufträge ausführt – das Gegenteil wissenschaftlichen Arbeitens. Ein Terrain also, über das man sich wunderbar lustig machen kann. Längst gibt es dafür eine eigene Gattung, den Campusroman, der durchaus kabarettreife Züge trägt, Stegreiftheater sozusagen, das von der realen Bühne des Lebens in Literatur zu verwandeln keine ganz leichte Aufgabe ist. Annette Pehnt – das macht sie zu einer der interessantesten Gegenwartsautorinnen – hatte schon immer auch Sinn für feinen, nie grobschlächtigen Humor, für die dem Alltag innewohnende Komik, die zugleich im Scheitern tragische Züge erhält. Im Grunde also ist sie eine ernsthafte, gut zu lesende, weil nie künstlich schwerfällige Autorin. Jetzt hat sie sich selbst – und uns – ein unterhaltsames Buch gegönnt, das mit dem höchsten literarischen Anspruch bricht: „Mein Beitrag zur Trivialliteratur“, wird sie zitiert.

Und hier beginnt die zweite Geschichte. Sie spielt immer noch in Freiburg, aber im Untergrund. „Michelle“, als Manuskript, erschien nämlich vorerst nicht im Hausverlag der Autorin, dem Piper Verlag, der sonst immer sehr daran interessiert ist, alle Texte zusammen zu halten. Thomas Tebbe, Programmleiter Belletristik und Annette Pehnts Lektor, nimmt seine Aufgabe ernst, worunter eben auch fällt, den Schützling vor einer Veröffentlichung zu bewahren, die dem „Autorenprofil“ schaden könnte. Er fand, der Text „besitze keine größere literarische Strahlkraft“, gibt aber zu, dass er sich beim Lesen amüsiert habe. „Michelle“ blieb also vorerst in der Schublade. Weil sie aber mit ihrem „schmalen, flinken Körper“ nach einigen privat organisierten Lesungen die regionalen Herzen nicht nur betroffener Universitätsmitglieder erobert hatte, half Friedemann Holder: Er brachte das Druckwerk in seiner Reihe „Text Mission“ im Verlag der linksalternativen Freiburger Buchhandlung Jos Fritz unter, die immer schon – wie ihr Namensvetter – für die Unterdrückten kämpfte. Das war 2010. Der Roman kommt im kecken Jackentaschenformat daher, mit einmontierten Fotos aus Michelles Alltag. Die Kapitel heißen „Module“, der Albtraum aller Studierenden – im Post-Bologna-Unijargon bezeichnet man damit die einzelnen Bauteile, für die am Ende der Abschluss winkt; kurzum: sie sind das Kapital. Inzwischen ist dem Werk ein kleiner Erfolg beschieden. Piper will nun nachrücken und als Geste an die Autorin „Michelle“ doch im Taschenbuch veröffentlichen – Broschur verzeiht mehr als das förmlich gebundene Buch.

Die dritte, vergnüglichste, etwas gemeine Geschichte spielt in „Sommerstadt“, unschwer als süddeutsche Unistadt zu erkennen. Hier plant Michelle ihr neues Leben. Sie ist eine reizende, junge Abiturientin mit einer raschen Auffassungsgabe und einer ausgeprägten Schwäche für Katzen, bereit, einiges auszuprobieren, „schließlich hat sie sich in den letzten Jahren sehr am Riemen gerissen, und gelohnt hat es sich, das sagt jeder, und sie selbst sagt es sich voller Stolz.“ Sie meldet sich überall an und will alles richtig machen, wenn man ihr nur sagt, was sie machen soll. Geschichte ist nicht ihr Ding. Sie glaubt sogar, wie viele ihrer Altersgenossen, „dass man die Gegenwart nur ohne Geschichte verstehen kann“. Eben noch im Abi geschwitzt, „den Teddy als Glücksbringer gegen den Multivitaminsaft gelehnt“, will sie voran kommen, Scheine machen, nicht zurückblicken, die Ernte ihrer strebsamen Schulzeit einfahren. Wie eindimensional sie gezeichnet ist!

Inzwischen gibt es schon den Begriff für diesen neuen überbehüteten Typus, mit dem Annette Pehnt in krasser Überzogenheit spielt, was sicherlich beim Schreiben viel Spaß gemacht hat: „parentified kids“. Dazu passend die mit Adleraugen über ihren Kindern kreisenden Eltern, genannt „helicopter parents“, eingeladen zum Erstsemestercafé und sogar schon mit eigenem Wikipedia-Eintrag und lustigen Grafitis im Netz vertreten. So lustig ist das aber eigentlich gar nicht. Und so kommt, was kommen muss: Michelle gerät (für den erforderlichen Kreativ-Schein) in die Schreibwerkstatt einer bösartigen Schriftstellerin, die ihr am Ende mit schlechter Note bescheinigt, sie habe nichts zu sagen. („Mutter: Na du sagst doch gerade was, oder? Michelle: nickt und lacht unter Tränen“.) Michelle stürzt sogar in eine kleine, depressive Krise, rappelt sich aber wieder dank eines Auslandssemesters und schottischen Biers auf, um schließlich selbst Teil des Betriebs zu werden, als wissenschaftliche Hilfskraft eines Professors. Jetzt lacht und lästert sie vorsichtig mit. Nur demonstrieren gegen die immer schlechteren Studienbedingungen will sie vorerst lieber nicht. Aber das kann ja noch werden. Pehnts Campus- und Entwicklungsroman ist erst „Bd. 1“, an dessen Ende die alte, ehrwürdige Universität in Flammen aufzugehen droht. Weg mit dem ganzen Zeugs. Ein würdiges Ende für einen Kultroman.

Sagen wir es wie die Germanisten hochgestochen mit ihrem Lieblingstheoretiker Bourdieu: Die verschiedenen Akteure des Felds, in diesem Fall des Unibetriebs, im weiteren Sinn des Bildungssystems, sind in ihrer Überzeichnung gut getroffen, und zwar alle, vom Rektor bis zu dessen überfordertem Pressesprecher, von der doppelbelasteten Teilzeitkraft auf Abschussrampe bis zum längst gekündigten traurigen Fall. Alle sind erkennbar Teil eines gigantischen Schuld-Verschiebe-Bahnhofs, der im Kindergarten beginnt und mit Uniabschluss längst noch nicht endet. Ein Macht-Apparat mit Hintertürchen, die Michelle mit hinreißender Energie zu finden versucht. Darüber ohne die Schwerlast täglicher politischer Debatten mal eine bissige Satire lesen zu dürfen, ist erleichternd. Der Charakter des Textes als Schlüsselroman ist da völlig sekundär – und offenbar die Figuren auch so gut getarnt, dass nicht alle eindeutig dechiffrierbar sind. Über eines aber sind sich die gemeinhin wohl informierten Kreise einig: Jeder kennt aus seiner Sprechstunde eine „Michelle“, die freimütig zugibt, den zu besprechenden Roman aus privaten Gründen nicht gelesen zu haben und ohne Scham eine Arbeit ohne eine einzige Fußnote abgibt. Die Dozenten selbst – blass, schwarz gekleidet, belesen, aber ständig nur traschend – kommen übrigens nicht viel besser weg.

Annette Pehnts Lektor mag recht haben: Sie hat einen Ruf zu verlieren. Aber kann der Literaturbetrieb wirklich so schlecht differenzieren? Das hier servierte, locker geschriebene Abziehbild, das auch Wahrheit birgt, rechtfertigt die Autorin mit einfachen, aber wirkungsvollen Waffen: Sie benennt die Schwächen mit Hilfe eines Vorsatzes (anstelle einer Zueignung) lieber gleich selbst: „Dieser Roman ist larmoyant, verbittert, arrogant, ungerecht und unpsychologisch; er enthält Stereotypen, Versatzstücke, Gesellschaftskritik, Verhöhnungen, Polemik und ein negatives Weltbild. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind beabsichtigt.“ Der andere Distanzierungstrick ist noch älter und einfacher und besteht im regelmäßigen Einschub des Porträts der Erzählerin (das bekanntlich nicht zu verwechseln ist mit dem Autoren-Ich!). Diese Erzählerin freut sich diebisch, das harmlose Mädchen entworfen zu haben, um ihr Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Manchmal wird es ihr ob der eigenen Häme etwas mulmig. Und so schleicht sich beim Leser sogar etwas Mitleid ein für den rüden Umgang mit Michelle.

Annette Pehnt, und das ist das eigentlich Interessante an allen drei Geschichten, hat damit nicht nur ihrer Figur, sondern quasi sich selbst Begleitschutz gegeben. Unterstützt wird sie von den Herausgebern, neben Friedemann Holder noch Michael Staiger, die in mittlerweile zwei flockigen Vorworten auf Vicki Baums Kolportageroman „Menschen im Hotel“ (1929) referieren, als Vorwarnung: Hier gilt das Drehtürprinzip. Keine kunstfertigen Charaktere. Nur Teile, nichts Ganzes. Und genau das sollte den Pehnt-Lesern zugemutet werden: dass sie auch dieses Büchlein rezipieren als Teil eines Werkes, das vielversprechend wächst. Im Frühjahr 2012 gibt es wieder einen ernsthaften Roman über die Verstrickung dreier Mütter aus verschiedenen Generationen. Bis dahin darf offenherzig gelacht, sich dafür geschämt und nebenbei analysiert werden.

 

Annette Pehnt: Hier kommt Michelle. Ein Campusroman, Bd. 1. Jos Fritz Verlag. Freiburg i.Br. 2010. 142 Seiten, 9 €.

 

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2011

Mai 13 22

Michio Kaku: Abschied von der Erde

Anja Hirsch
Kaku1-Weltall-NZZaS-419

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Okt 30 09

Alfred Kubin: 100 Jahre „Die andere Seite“

Claus Brunsmann

Es gibt einen Tag im Leben des Zeichners Alfred Kubin, da er nicht mehr leben mochte. Gewillt, sich am Grab der früh gestorbenen Mutter umzubringen, fährt er mit dem Zug von Klagenfurt nach Zell am See, wo er aufgewachsen war. Der Zug bleibt wegen Hochwassers stecken, und aus einem Tag werden gedehnte zwei, was den 19-Jährigen nur um so entschlossener macht. Mit der Nadel hat er sich nach einem anatomischen Bilde einen Ritz in die Schläfe gemacht, um das Gehirn nicht zu verfehlen. Doch die eingerostete alte Waffe versagt, und zum zweiten Abdrücken fehlt ihm „die seelische Kraft“. So beschreibt es Kubin Jahre später in einer Selbstbiographie. Möglicherweise ist ihm aus der Distanz diese Szene wildromantischer erschienen als sie in Wirklichkeit war. Als Erzählung vereint sie auf irritierende Weise Pose und Plan mit panischer Lebensangst. Wer war dieser Mann, der auf einem frühen Selbstbildnis klein und geduckt am Schreibtisch sitzt, beäugt von einer Maske an der Wand, die zwei Gesichter hat – Leben und Tod?

Man bezweifelt nicht, dass es ernst um den jungen Kubin stand. Der Wunsch nach Auflösung zieht sich durch sein Leben, durch Briefe, Essays, Bilder. Als er am 20. August 1959, heute vor fünfzig Jahren, starb, hinterließ der 82-jährige „Künstler, Grübler, Seher“, wie er sich selbst nannte, nicht nur ein riesiges malerisches Werk und einige Schriften, sondern auch einen erfolgreichen Roman mit Illustrationen und Lageplan: „Die andere Seite“ erschien 1909 und gilt als Klassiker der phantastischen Literatur. Kubin, ein erruptiv arbeitender Mensch, will diesen Roman, als das Zeichnen einmal nicht klappte, in nur acht Wochen abgeworfen haben, die Bilder dazu in weiteren vier. Es ist die Geschichte eines gigantischen Verfalls, dem zwar eine Schöpfungsgeschichte vorausgegangen ist – aber Kubins erzählerisches Herz gilt dem Untergang. Schon als sein Ich-Erzähler, Zeichner wie er selbst, mit seiner Frau auf Einladung des alten Schulfreunds Patera dessen seltsames Traumreich betritt, streift die Reisenden im Grenztunnel kurz Todesangst. Jenseits eines kolossalen Eingangstors hat man ihnen Menschen mit eminent geschärften Sinnesorganen versprochen, dorthin geflüchtet, weil sie mit der modernen Kultur unzufrieden waren. Aber wo kein Fortschritt, da kein Ziel. Kleider verschimmeln, Ameisen pulverisieren die Mauern. Längst fault es im Traumreich Pateras. Weniger von den Rändern her. Eher ausgehend vom Zentrum einer sich selbst verschlingenden Leere.

Wovon nährt sich Kubins Depression? Und wie gelingen ihm, früh schon unter dem Eindruck von Gesichten im „Wunderrausch“, trotz eines äußerst empfindsamen Nervengespinsts in Schaffensphasen diese bizarren Szenen? Als er 1901 die ersten Bilder bei Paul Cassirer in Berlin ausstellt, stürzen sich die einen ungeschützt und begeistert in seine schwindelnden Abgründe; andere Betrachter wollen nichts wissen von seinen „krankhaften Phantasien“. Magere Wölfe strolchen in Schwarz-Weiß-Bildern verloren durch verwehte, fahle Gegenden; aus knöchernen Körpern wachsen ausladende Hintern, Rieseninsekten jagen Menschen. Im Bild „Geilheit“ hält ein dicht behaarter Hund mit erigiertem Riesenpenis, aus dem Samen tropft, eine nackte Frau in Schach. In Kubins bekanntestem Bild springt ein winziger Mann kopfüber pfeilschnell hinab in das struppige Geschlecht einer Frau, die mit geöffneten Schenkeln auf dem Rücken liegt. Es trägt den Titel „Der Todessprung“. Man spricht von „Psychographiken“. Fratzen, Tiermenschen, von teuflischer Kraft irre gewordene Frauen bevölkern Kubins Werk. Es gibt nichts, was in seinem Hirn nicht wuchern könnte. E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe hat er unter vielem anderen illustriert; Schopenhauer und Nietzsche quasi inhaliert.

Natürlich ist da also einerseits der satte Boden seiner Zeit, die gerade erst über die Schwelle von Freud geglitten war. Natürlich waten wir mit Kubin in jenem Düsterreich, das die Tücke allen Begehrens kennt. Trotz dieser symbolischen Durchschaubarkeit, trotz dieses triebhaften Wütens, schaudert es einen noch hundert Jahre nach Erscheinen seines einzigen Romans, wenn darin plötzlich in dunkler Nacht der „Klaps“, ein dürrer Gaul, durch die Straßen jagt – meist dann, wenn Patera seine Anfälle hat. Kubin öffnet die Kluft des Subjekts – aber nie isoliert von gesellschaftlichen Vorgängen.

Bleiben wir kurz bei diesem rätselhaften Traumreich-Schöpfer aus Kubins Roman. Ihn zu treffen, erweist sich für den umgesiedelten Erzähler als äußerst schwierig. Kafka, der Kubin 1911 in Prag traf, hat hier seine Welt gefunden. Sture Wächter verlangen unsägliche Dokumente wie das Schulaustrittszeugnis des Vaters. Auf unendlichen Fluren geht der Erzähler, während eine dunkle Kraft ihn zieht, verloren. Plötzlich aber entdeckt er Patera. Eine Art Super-Chamäleon der Literatur. Anfangs erscheint er dem verwirrten Erzähler wie ein griechischer Gott, vom Fratzentheater ständig verzerrt. Im katastrophischen Finale wächst Patera zum heiß urinierenden, Menschen verdampfenden Berg, der über Leichen stapft. Und mag auch Kubins Dramaturgie ständiger Überbietung bisweilen ermüden, so packen uns bis heute diese kalten Golemszenen.

Fast beginnt man dabei zu vergessen, wer hier berichtet – und von wo. Drei Jahre Traumleben haben dem Erzähler die Identität geraubt. Er schreibt jetzt aus einem Irrenhaus. Unzuverlässige Erzähler hat die Literatur dieser Zeit genug. Auch dieser hier, randständiger Chronist einer kollektiven Talfahrt in die Abgründe der Seele, verführt uns mit der Klarheit des Blicks – und versteht doch längst nicht alles, was er sieht. Er produziert jene Spielfiguren des Fantastischen, die uns reizen und seltsam vertraut erscheinen. Aus welchem Urschlamm gräbt er sie?

Das eigentlich Fantastische an diesem bildgewaltigen 100jährigen Klassiker phantastischer Literatur ist seine unendliche Biegbarkeit: Man kann diesen Roman lesen als subjektive Grenzerfahrung, als brachiale, traumwandlerische Triebentleerung, als Studie über Depression. Man kann ihn freilich lesen als Text seiner Zeit, als Ausdruck jener typischen Jahrhundertwendenerschöpfung durch (zu viel) Zivilisation, in welcher nun der expressionistische Kraftmensch protzt und schwächelt. Dann wieder schwingt reinste Systemkritik mit. Zeigt nicht das Leben der Traumleute die Verführbarkeit durch Ideologie und deren Scheitern?

„Ich will aufgehört haben“, schreibt Kubin in einem Brief an die Schwester 1904. Zugleich kennt er „die Kraft und Zähigkeit des Blutes, das leben will um jeden Preis, tierisch am bloßen Dasein hängt trotz der Qual, welche damit verbunden ist.“ In diesem Spannungsfeld muss sich das Leben Alfred Kubins zur Entstehungszeit des Romans abgespielt haben. Mit zehn erlebt er den Todeskampf der Mutter und sieht, wie der Vater „die lange Leiche der abgezehrten Frau aus dem Bett“ hebt und „damit weinend und wie um Hilfe rufend in der ganzen Wohnung“ herumläuft – ein Gefühlsausbruch, der den Jungen ängstigt. Nun ist er dem Vater ausgesetzt, der den Schulversager verachtet. Früh also bewegt sich Kubin in der „Eisregion einsamsten Grübelns“, die ihn zeitlebens prägt. Seinem Werk ist das Ringen mit Autoritäten, mit Schuld und Scham förmlich eingraviert. Dass er heute wegen seiner Nähe zur Künstlervereinigung „Blaue Reiter“, als Wegbereiter des Surrealismus, als dämonischer Visionär und vor allem Illustrator berühmt ist, mag offenbar jener Fähigkeit geschuldet zu sein, Panik und Plan, Chaos und Ordnung fruchtbar zu kreuzen. Der halluzinatorische Sog, der nach dem Betrachter greift, verliert sich dabei nie.

Alfred Kubins Roman „Die andere Seite“, ebenso zu empfehlen wie die Vertiefung in sein zeichnerisches Werk, hat Suhrkamp jetzt neu aufgelegt, mit Illustrationen von Kubin, aber ohne dessen Selbstbiographie, die alte Ausgaben des Romans noch enthalten. Stattdessen ließ man aber den österreichischen Schriftsteller und Büchnerpreisträger Josef Winkler für ein oszillierendes, an Kubins Leben sich anschmiegendes Nachwort zur Feder greifen.

 

Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman. Mit 51 Zeichnungen und einem Plan. Mit einem Nachwort von Josef Winkler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009, 308 Seiten, 24 €.

 

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG,  Januar 2009

Jun 12 09

Eileen Chang: Das Reispflanzerlied

Claus Brunsmann

„Der Sonnenschein lag wie ein alter gelber Hund quer über der Straße und versperrte den Weg. Hier war die Sonne alt geworden.“ Hier – das ist in Eileen Changs 1955 in ihrem amerikanischen Exil erstpublizierten Roman „Das Reispflanzerlied“ die bedrückende Enge eines kleinen Dorfes im Süden Chinas Anfang der fünfziger Jahre. Nach der Bodenreform treten Versprechungen nicht ein. Als die hungernden Bauern auch noch genötigt werden, ihren kärglichen Rest – nach Abgaben an die Kommune – Soldatenfamilien während Chinas Koreakrieges zur Verfügung zu stellen, kommt es zu einem Aufstand. Und so ist der Satz „Hier war die Sonne alt geworden“ keineswegs eine hohle Metapher, sondern ahnungsvolles Zeichen einer untergehenden, traditionellen Lebensweise, die keinen rechten Ort mehr hat. Noch redet man sich an mit „vierte“ Tante, begegnet einander „mit scheuer Würde“, hat Schamesröte im Gesicht, wenn man spricht. Die Genossen der kommunistischen Kader aber tragen stolz Fettflecken auf ihrer Uniform – der schwere Dienst am Volk lässt Körperpflege eben nicht zu. Und doch gerät dieser Klassiker der chinesischen Literatur keineswegs zu einem antikommunistischen Pamphlet. Denn Gewinner und Verlierer auszumachen, fällt schwer; alle sind sie Opfer eines die menschlichen Beziehungen im Kern zerstörenden Wertesystems.

Wegen dieses genauen, psychologischen Blicks auf die Gesellschaft war die 1920 geborene Schriftstellerin Eileen Chang, eigentlich Zhang Ailing, schon in den 40er Jahren im japanisch besetzten Schanghai ein Star. In ihrer berühmtesten Novelle „Das Goldene Joch“ (1943) beschrieb sie, wie Dekadenz Traditionen zerstört. Jenseits einer damals allgegenwärtigen, apolitischen Unterhaltungsliteratur etablierte sie in nüchternem Stil eine präzise, wachsame Prosa. Sie deutete Beziehungskonflikte nicht als geschichtslose, individuelle Dramen, sondern als endloses Zwangsspiel zwischen alter und neuer Zeit, zwischen Ritual und neumodischer Eleganz. Und sieht man Ang Lees großartige Verfilmung ihrer Erzählung „Gefahr und Begierde“ (2007), der es gelingt, winzige Gesten, etwa ein schlagartig alles verändernder Augenaufschlag, minutiös einzufangen, ahnt man, was wohl erst die zugrunde liegende Prosa im Kleingliedrigen vermag.

Noch heute entfaltet sie ihre Kraft deshalb nicht nur dank der mitgelieferten politischen Analysen. Stärker noch als die Überlebenskämpfe der Dorfbewohner im chinesischen Hinterland, brennt sich dem Leser die zarte Hilflosigkeit des Paares ein, von dessen letzten Wochen vor einem grausamen Tod hier erzählt wird. Eileen Chang verfügt über eine fast spröde Syntax, die einen lange in Ruhe wiegt, so, als werde hier noch mit Unterstützung des Erzählers jede Zwietracht bemüht unterdrückt – bis überraschend ein scharfer Satz mitten in einer scheinbar harmlosen Konversation früh Abgründe aufblitzen lässt. Wenn Jin’gen, der Mann, etwa seine nach drei Jahren Geldverdienen aus der Stadt heimwandernde Frau Yuexiang im Dunkeln herannahen sieht und erste, fremdelnde Sätze tauscht, heißt es lapidar: „Er ging neben ihr her. Der durchnässte Strumpf umfing seine Fußspitze mit eisigem Griff, doch er war froh um dieses Gefühl; es war der Beweis, dass er nicht träumte. ‚Hast du auch den Schwager gesehen?‘, fragte er.“

So schnell diese hoffnungsvollen und zum Scheitern verurteilten Figuren in jenen Begegnungen zum Belanglosen übertreten, so frappierend können sie auch entgleisen. „Warum stirbst du nicht?“, sagt einmal erbost die entnervte Yuexiang zu ihrer quengelnden Tochter A Zhao, die so heißt, weil sie etwas „herbeiwinken“ soll – nämlich ein Brüderchen. „Aber da die Mutter in den letzten Jahren nicht anwesend war, hatte A Zhao umsonst gewinkt.“ Immer wieder lässt einen die Autorin mit solchen ins Nichts fallenden Sätzen zurück. Wie kantige Kristalle ragen sie aus dieser uralten Kultur, die allerorts von Propaganda unterwandert wird. Nie gibt die Autorin dabei ihren Stoff aus der Hand – den Hunger, aber eben auch die innere Zerrissenheit der Genossen, die Freunde und Verwandte im Dorf richten müssen, allein gelassen von der Partei, die sie zwingt, den Bauern das Geld abzupressen. Changs Gabe besteht darin, alle diese privaten Schicksale wie Stillleben zu zeichnen: „Beide saßen sie der Sonne zugewandt; er etwas vor ihr. Die Sonne segelte langsam hinter die Wolken und kam ebenso langsam wieder hervor. Viele Male verdunkelte sich die Welt und wurde wieder hell, aber Mann und Frau sprachen kein einziges Wort miteinander.“

Dass poetische Bilder und Klarheit der Aussage sich hier so schön vermischen, mag vielleicht daran liegen, dass Eileen Chang 1952 in dieser von Amerika geförderten Auftragsarbeit, noch in Hongkong wohnend, zum ersten Mal in einer ihr fremden Sprache, in Englisch schreibt. Lob gilt hier vor allem der Übersetzerin Susanne Hornfeck, die deshalb bewusst diese englische Fassung unter Berücksichtigung der später von Eileen Chang selbst besorgten chinesischen Fassung herangezogen hat. Das englische Original hat nicht nur ein brutaleres Ende, das in Zeiten des kalten Krieges schärfere Konturen zog. Es klingt auch direkter und, so die Übersetzerin, weniger blumig als das Chinesische, was die schlanken, knappen Sätze dieser neuen Fassung wunderbar spiegeln. Und enthielt die einzige deutsche Fassung aus dem Jahre 1956 von Gabriele Eckehard noch altertümelnde, eingedeutschte Namen wie „Mondesduft“ oder „Goldwurzel“, begegnet man jetzt wieder den Originalnamen aus der chinesischen Fassung.

So taucht man umstandslos ein in diese Zeit und wird Zeuge, wie langsam Etiketten und Höflichkeit zerbröseln, weil diese Menschen Spielball einer größeren Macht geworden sind. Was das auch für die zensierte chinesische Kunst bedeutet, deren Opfer Eileen Chang selbst war, erzählt eine parallele Geschichte: Ein Genosse kommt ins Dorf, um einen Film zu drehen – auch er nur auf der Suche nach propagandistischem Bildmaterial. Das nimmt perfide Ausmaße an, denn am liebsten wäre ihm ein kaputter Damm, um zu zeigen, wie ein Ingenieur aus der Stadt mit den Bauern über Lösungen nachdenkt – „ein Sinnbild für die Einheit von technischem Können und bäuerlicher Erfahrung“. Leider aber tritt der Fluss nie über die Ufer. Doch als später der Getreidespeicher brennt, nimmt das Drehbuch endlich Form an. Da hat die staatlich verordnete Melodie des „Reispflanzerlieds“, das man zur Ernte summt, längst Tote gefordert. Der Film, den die Städter zu sehen bekommen, wird sich darüber ausschweigen.

1955 tauscht Eileen Chang ihre Heimat endgültig gegen Amerika. Zwei Ehen liegen hinter ihr, als sie 1995 in Los Angeles stirbt. Mit Übersetzungen und Lehrtätigkeit hatte sie sich über Wasser gehalten, nachdem der Ruhm der 40er Jahre schwand. Unter den Kommunisten, die 1949 an die Macht kamen, galt die stille Beobachterin dekadenter Auswüchse – Ironie des Schicksals – nun selbst als dekadent und bürgerlich. Eileen Chang hinterlässt ein schmales, im englischsprachigen Raum viel bekannteres Werk, das es – mit diesem Roman und dem Erzählungsband „Gefahr und Begierde“ (2008) – in Deutschland noch zu entdecken gilt.

 

Eileen Chang: Das Reispflanzerlied. Roman. Aus dem Englischen unter Berücksichtigung des Chinesischen und mit einem Nachwort versehen von Susanne Hornfeck. Claassen Verlag, Berlin 2009, 222 Seiten, 19,90 €.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2009

Jun 11 10

David Grossman: Der Rufer in der Wüste

Claus Brunsmann

Der Rufer in der Wüste

Unterwegs zu den Orten der eigenen Angst: Der israelische Schriftsteller David Grossman trotzt mit seinem jüngsten Roman den Schrecken des Nahostkonflikts. Eine Begegnung mit dem diesjährigen Friedenspreisträger.

Stimmen eröffnen David Grossmans Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“. Unsichere Fragen, vereinzelte Rufe im Dunkeln, noch bevor man einander sieht. Die Stimme, sagt David Grossman bei unserer Begegnung, die Stimme sei etwas Intimes, eine Markierung. Er spricht präzise, nimmt sich Zeit, um eine Frage genau zu beantworten. Ihn selbst haben Stimmen geprägt. David Grossman, 1954 geboren, war neun, als der einzige Radiosender des jungen Staates Israel einen Wettbewerb ausrief. Es ging um Erzählungen Scholem Alejchems, und die kannte er wie niemand. Sein Vater hatte ihm das Buch zum Lesen gegeben. Es schien den Jungen durch einen Tunnel zu führen, direkt in das osteuropäische Schtetl Galiziens, wo sein Vater aufgewachsen war, bevor er 1936 nach Palästina einwanderte.

Bedürfnis nach Dialog

Was er von seinem Vater gelernt habe? „Mensch“ zu sein, sagt er und lächelt. Aber er sei, wiegt er ab, eine perfekte Kombination aus beiden – von der Mutter habe er das Klare; sie liebt scharfe Bemerkungen. Aufzufallen sah der Familienkodex aber nicht vor. Und so war es, als damals der Brief des Radiosenders eintraf, für die erschrockenen Eltern, „als hätten sie einen Brief von Ben Gurion erhalten“ – kurzum: Ihr Sohn wurde tatsächlich Radiosprecher. Später arbeitete er als Redakteur und Hörspielautor. Und als man ihm einmal in einem Sprechkurs den Trick beibringen wollte, er solle sich eine Busladung Publikum vorstellen, zu denen er rede, entschied er: „Ich stellte mir lieber den einen Menschen in einer Wüste vor, zu dem ich spreche, und nur zu ihm!“

Man spürt das Dringliche, das Ehrliche, die Würde dieses intimen Raums in allen seinen Romanen und selbst in den politischen Essays. Doch Grossman ist dabei kein einsamer Rufer. Schon immer habe er „ein großes Bedürfnis nach Dialog“ gehabt, überzeugt davon, dass jedes Gespräch etwas mit uns macht. Seine Stimme hat in Israel Gewicht. David Grossman geht es um viel. Das jüdische Leben im Schtetl, von dem er als Kind dachte, es existiere immer noch und parallel zu seinem, war ihm lange wie ein Märchen. Es brach bei einer der obligatorischen Holocaust-Gedenkfeiern in sich zusammen. Mit einem Mal wurde dem Neunjährigen klar: „Diese sechs Millionen, diese Ermordeten, diese Opfer, diese ,Märtyrer der Shoa‘, wie man sie auch nannte – das waren meine Leute. Das waren Mottel, Tewje, Shimele, Soroker, Chavale, Stemphanio, Lili und Shimek.“

Wanderung durch Israel

Das Trauma der Shoa bebt in Grossmans Werken nach, etwa in dem Roman „Stichwort: Liebe“. Sein Opus magnum aus dem vergangenen Herbst „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ erzählt dagegen von der Situation heute; von Ora, einer Mutter, die ihren Sohn Ofer in den Krieg begleitet und dann beschließt, vor der möglichen Todesnachricht zu fliehen. Sie will nicht untätig zu Hause sitzen und warten. So wandert sie lieber mit ihrer unendlichen Angst quer durch Israel. Sie wird dabei begleitet von Avram, ihrem ehemaligen Geliebten, den nichts mehr hält – die Schrecken der Folter in ägyptischer Gefangenschaft im Jom-Kippur-Krieg haben ihn kühl gemacht. Ora aber gelingt es während dieser langen Wanderung, Avrams Kruste allmählich aufzubrechen. Sie erzählt ihm vom Leben, von ihrem Sohn Ofer, von der Ernsthaftigkeit bei den ersten Schritten, als er noch klein war. Und während sie Avram durch Reden ins Leben zurückholt, füllt sie, wie sie hofft, auch ihren Sohn Ofer mit Leben, irgendwo dort draußen im Krieg, wohin sie ihm nicht folgen kann.

„Sie will einen Zaun um ihn bilden mit all diesen Geschichten“, sagt David Grossman. Er begann den Roman 2003, kurz bevor sein älterer Sohn Jonathan seinen Militärdienst beendete und sein jüngerer Sohn Uri einberufen wurde. Mit ihm hat er viel über den Roman und die Figuren gesprochen. „Was hast du ihnen diese Woche wieder angetan?“, fragte der Sohn oft. Uri starb am 12. August 2006 in den letzten Tagen des zweiten Libanonkrieges beim Versuch, die Besatzung eines anderen getroffenen Panzers zu retten. Mit ihm starben Benaja Rein, Adam Goren und Alex Bonimovitsch. „Ich dachte, ich könnte ihn begleiten, dorthin, wo er sein würde.“

Schreiben, um nicht Opfer zu sein

Grossmans Roman beschreibt eine Angst, die Ora, die Hauptfigur, mit vielen Eltern des Landes teilt. Einmal gräbt Ora wie besessen ein Loch in die Erde, über die sie wandert. Sie weint ihre Tränen hinein. „Was mache ich, dachte sie, ich erzähle der Erde von ihm, warum erzähle ich ihr von ihm, und sie bekam Angst, vielleicht bereite ich sie auf ihn vor, damit sie weiß, wie sie sich um ihn kümmern muss.“ David Grossman betont oft, er schreibe, um nicht Opfer zu sein, um etwas benennen zu können. Seine Figuren sind Fluchtfiguren, doch keineswegs Eskapisten: Sie wachsen, während sie rennen, reden, fantasieren. Und sie dringen dabei manchmal in Bereiche vor, die vorher unausprechlich erschienen.

In den sechziger Jahren, als David Grossman ein Kind in Jerusalem war, gab es auch für ihn Fluchtbücher. Solche, in denen die israelische Fußballmannschaft über die deutsche gewann; oder Enid Blytons „Fünf Freunde“. „Am meisten lasen wir Bücher, die nicht von uns handelten, sondern von anderen Menschen an anderen Orten, friedlichen Orten. Wir wollten wirklich in einem englischen Garten leben! Wir nannten uns George und John, weil unsere eigenen Namen so trivial und banal für uns klangen.“

Der Mensch hinter der Rolle

Heute sucht er die Plätze auf, die ihm Angst machen. Er will das Gespräch, gerade mit Menschen, die, weil sie plötzlich zu Repräsentanten ihrer Kultur werden, als Gegner gelten. Grossman sucht den Menschen hinter seiner Rolle. Vielleicht auch: die Stimme, den Klang hinter dem vorschnell gefertigten Bild. Dies ist sein Weg zu einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts, der beide Seiten berücksichtigt.

Man fühlt bei ihm selbst und in seinen Werken diesen Resonanzraum, der so viele Nuancen kennt. Und wenn er seine beiden Hauptfiguren Ora und Avram über die Krater dieses verwundeten Landes schickt, mit Rucksack und Reden und Beißen und Schweigen und Lieben, mit allem, was menschliche Beziehung ausmacht, schwingt immer beides mit: eine vollkommene Klarheit über das Leben in Israel, über das Glück, wenn man dort vielleicht zwanzig gute Jahre hatte, in denen nichts passierte. Und eine Klage, die ihre Wurzeln hat und die Sehnsucht, endlich verebben zu dürfen. „Jemand schrieb mir, Ora sei wie eine Muse des Lebens“, erzählt David Grossman. Und tatsächlich ist sie die treibende Kraft dieses Romans. Eine Lichtfigur, aller Schrecken zum Trotz.

Berührende Polyphonie

David Grossman wanderte selbst 2003 diesen hier beschriebenen Israel Trail, sogar fünfhundert Kilometer, weiter als seine Figuren. Meistens alleine, manchmal mit Michal, seiner Frau, an speziellen Plätzen, die sie liebt. Der Weg schlängelt sich an historischen Stätten entlang, durch Johannisbrotbäume und Eichen, „in den Fußstapfen der Tannaiten und der Amoräer“, in glühender Hitze, vorbei an Kühen mit prallen Eutern – aber immer auch durch unsicheres Gelände, durch israelisch-arabische Gebiete. Man warnte ihn damals. Ein israelischer Soldat war in dieser Zeit getötet worden.

Aber nicht die Menschen, höchstens Tiere, Hunde und Wildschweine, waren bedrohlich – „alleine macht man kaum Geräusche, und so stößt man plötzlich auf sie“. Die Menschen hingegen, die Grossman traf und die ihn zum Teil erkannten, waren nett und offen. Manche ihrer Erzählungen hat er – mit ihrer Erlaubnis – in seinen Roman sogar eingearbeitet. Ihre Stimmen sind Teil dieser berührenden Polyphonie.

Normalerweise, sagt David Grossman am Ende nachdenklich, begleite er ein Buch, das im Ausland erscheine, nicht so intensiv. Diesmal, mit dem Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“, sei das anders. Vielleicht so, wie man ein Kind am ersten Tag zum Kindergarten begleitet und hofft, dass es gut behandelt wird. Jetzt erhält David Grossman den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2010.

 

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, Juni, 201o

Apr 30 13

Connie Palmen: Logbuch eines unbarmherzigen Todes

Claus Brunsmann

Connie Palmen beginnt 48 Tage nach dem Tod Hans von Mierlos mit ersten Notizen. „Ich wollte einen Roman schreiben, der den Titel Judas tragen sollte – und da starb mein Mann.“ Elf Jahre Leben teilte sie mit dem in den Niederlanden prominenten und beliebten Politiker. Ein paar Monate zuvor heiratete das Paar. Kann man als Außenstehender Zugang finden zur Trauer? Darf man? Wie schreibt man darüber?

Connie Palmen muss es zum zweiten Mal tun. „I.M.“ (1998) schrieb sie nach dem plötzlichen Tod des Journalisten und Talkmasters Ischa Meijer, mit dem sie vier Jahre zusammen war. Ein Buch des Schmerzes, fast ein Liebesroman. So intim manchmal, dass man sich nicht traute, mitzulesen. Jetzt ist das anders, obwohl Connie Palmen auch diesmal ihrer entwaffnend genauen Poetik vertraut. Sie schaut hin. Sie entblößt sich und ihre Hilflosigkeit, ihre Ausflüchte ins Trinken, ihr Verschwinden hinter dem Styx. Abends kochen Freunde mit ihr, morgens zwingt sie sich zur Zeitungslektüre, Rituale geben Struktur in diesem „Meer aus Zeit“. Sie entdeckt, dass sie den Geruch nicht mehr erinnert. Im Auto herumgefahren zu werden beruhigt. Das Leiden sieht sie als Tribut für diese Liebe, dieses Glück. Wenn nachts ein Gewitterschlag kommt und niemand da ist zum Anklammern, ist sie tapferer als sonst. Ungerufen ist die Erinnerung immer schon da. „‚Das ist großes Wetter‘, sagt er beruhigend, mit einer Stimmer, in der noch etwas Nacht klingt.“ Sie vergleicht den einen mit dem anderen Tod, den brüsken von „I.M.“, der „eine monatelang anhaltende Erschütterung“ auslöst, und den Tod nach langer Krankheit, wo „die Trauer im Leben“ einsetzt. Sie erwacht anders als beim ersten Tod.

Und doch ist „Logbuch eines unbarmherzigen Jahres“ anders als „I.M.“. Es ist kein vom Schmerz gezeichneter Liebesroman, keine Litanei, auch kein Denkmal für Hans von Mierlo, die öffentliche Person. Palmens Buch drängt sich nicht auf, obwohl es so viel Gefühl enthält. Es nimmt sich aber auch nicht zurück, sondern rückt einen auf den Leib, gerade so nah, wie jeder es für sich verkraften mag. Es wird in seinem Protokollton, in seinen wie Fallbeile in diesem unbarmherzigen Jahr hereinbrechenden Todesnachrichten, zur „Chronik der Trauer“, die zugleich auf eine seltsame Art eine Chronik des Lebens ist.

Kurz nach Hans von Mierlo stirbt dessen Schwester. Dann Palmens Graphiker. Der Autor Harry Mulisch. Anna Keel, die Frau des Diogenes-Verlegers Daniel Keel, und ein Jahr darauf dieser selbst. Auch eine Großtante. „Wir stehen alle an, Kind“, sagt Connie Palmens Mutter, als sie die Nachricht überbringt. Es stirbt auch Marie, die Tochter Hans von Mierlos, ein Jahr nach dem Vater, mit 45 Jahren. Zu ihr hat Connie Palmen eine enge Beziehung, auch der Leser, der sie durch dieses Buch noch begleitet. Dieser Tod wiegt am schwersten, falls das messbar ist.

Die Momentaufnahmen, die Connie Palmen in diesem unglaublichen Trauermarsch zusammenträgt, verändern sich ständig. Schonungslos tastet sie dieses Jahr ab; seine Gegenwart, in der es keinen Halt gibt; seine Vergangenheit, die immer wieder hineinstrahlt wie aus einer anderen Zeit – durch Einschübe von älteren Einträgen und Reflexionen über den Tod; auch Hans von Mierlo, der anders wahrnahm durch Tagebuchschreiben, kommt zu Wort. Man muss schon auf die Jahreszahl achten, um die so gegenwärtig klingenden Passagen von der Tagesnotiz scheiden zu können. Hinter der persönlichen Verlusterfahrung macht Connie Palmen das Erleben Anderer sichtbar. Das sind viele Gründe, warum ihr Buch eines für viele werden kann, warum es sogar ein seltsam befreiendes Buch ist. Connie Palmen war schon immer eine ausgesucht Lesende, die einen an ihren Funden teilhaben lässt. Auch jetzt prüft sie Texte, die das Ungreifbare in eine Form bringen. In der Literatur bilden sie längst eine eigene Textfamilie: Roland Barthes „Tagebuch der Trauer“ oder Anne Philipes „Nur einen Seufzer lang“. P.F. Thomése schreibt in „Schattenkind“: „Es gibt nur noch Wörter, die mit Un- und Ent- anfangen, also Wörter, die sich von etwas zu lösen, die etwas nicht zu sagen versuchen.“ Joyce Carol Oates schreibt, sie halte sich aufrecht als „öffentliche Person“, als „Kunstfigur“, die der Beruf ihr beschert. Immer die gleiche Geschichte, immer anders erzählt. Connie Palmen war auf der Suche nach einem Klagelied, aber „man braucht fast biblische Wörter, um das zu beschreiben“, so weit weg ist diese Möglichkeit des Ausdrucks, des Lamentierens, sagt sie in einem Interview. In welcher Form? Dem Tagebuch misstraut sie. Die Vorstellung von einem Logbuch ist ihr lieber. Ein Logbuch verpflichtet zum Schreiben, denn es kann als Beweismittel wichtig sein. Man tut etwas, man tut nicht nichts, und man tut es unter dem Vorwand, es nicht zu veröffentlichen. Dass sie ihr Buch dabei aus der Form gehen lässt, es hierhin und dorthin wachsen lässt, ist notwendig. Connie Palmen nimmt die Trauer von allen Seiten in den Blick. Sie zeichnet auf, wie sie sich entwickelt, wiederholt, verändert; wie sie verschließt und vor allem öffnet. Ihr Sprechen über die Trauer ist eine Gratwanderung, die sich bedingungslos allem öffnet. Fast. Denn es heißt ja auch: „Ich weiß, das man mehr nicht aufschreibt.“ Dazwischen, dahinter ist Connie Palmens bewegender Bericht verortet.

 

Connie Palmen: Logbuch eines unbarmherzigen Jahres. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. (Original: 2011) Diogenes Verlag, Zürich 2013. 265 Seiten, 21,90 €.

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 2013

Dez 30 08

Paul Auster: Mann im Dunkel

Claus Brunsmann

von Anja Hirsch

 

21 Jahre sind vergangen, seitdem Paul Auster im „Land der letzten Dinge“ unterwegs war – jenem Roman, der sich von all seinen anderen Romanen unterschied, weil er so gnadenlos den Geruch des Todes in die Nase trieb. Er war erstaunlich geradlinig erzählt, die Endzeitstimmung allgegenwärtig. Nie danach schrieb Auster so konsequent vom Verfall. Er baute ihn stattdessen in die Erzähltechnik selbst ein: Figuren tauchten auf und verschwanden plötzlich. Oder nahmen einen anderen Namen an. Spuren führten ins Rätselhafte. Austers Geschichten wollten verwirren. Immer war man beim Lesen mit der eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert. Wohin aber, fragte man sich, sollte das führen? Drohte nicht Gefahr, dass sich diese Vexierspiele eines Tages leer liefen und nur noch die Lust an der Technik, nicht aber an den Inhalten blieb?

In seinem neuen Roman „Mann im Dunkel“  kehrt Auster wieder in ein Trauerhaus ein. Drei Generationen teilen sich, unter einem Dach lebend, privates Leid: Der im Rollstuhl sitzende August Brill, dessen Frau an Krebs gestorben ist; seine Tochter Miriam, die nach einer Trennung zu ihm zieht; und ihre Tochter, Brills 23jährige Enkelin Katya. Sie unterbrach ihr Studium, nachdem ihr Freund Titus auf entsetzliche Weise ums Leben kam. Es ist kein privater, sondern ein politischer Tod. Paul Auster will seinen Roman in einen größeren Zusammenhang gestellt sehen. Er spielt in einer von Terror gepeinigten Welt und wäre ohne den Irak-Krieg der USA nicht denkbar. Rohe Gewalt ist im erzählten Jahr 2007 am Werk. An Titus, zufällig ausgewählt, exerzierte man ein Exempel der Macht. Mit Bedacht hält Auster Details bis zum Ende zurück.

Ihm geht es um etwas anderes: Er zeigt, wie exzessiv die drei Trauernden in diesem stillen Haus ihre Schrecken mit neuen Bildern zu überlagern versuchen. Katya sieht täglich mehrere Filme. August Brill denkt sich, wenn er nicht schlafen kann, Geschichten aus. Miriam schreibt emsig an einer Biografie über Rose Hawthorne, einer Frau, die nach Jahren des Scheiterns spät noch zum Glauben konvertierte und dreißig Jahre lang unheilbar Kranke pflegte. Miriam ist dem Augenblick auf der Spur, in dem sich ein Leben ins Positive zu wandeln anschickt.

Auch Auster geht es um diesen Moment. Nach Ausflügen ins Reich der Fiktion und Filmanalysen bahnt sich im Dunkel einer schlaflosen Nacht zwischen dem Großvater und der Enkelin ein Gespräch über die Vergangenheit an. Trauerarbeit ist das noch lange nicht. Aber ein Licht am Ende des Tunnels. Und man fragt sich, welchen Beitrag zu dieser Veränderung jene Geschichte leistet, die Brill nachts erfindet.

Er lässt einen Mann namens Owen Brick desorientiert in einem Erdloch erwachen (eine Anspielung an Saddam Hussein, den man eben darin fand?). Owen kommt ohne fremde Hilfe nicht heraus. Schließlich hilft man dem Uniformierten und erteilt ihm einen Auftrag: Er soll einen Mann umbringen, der „schreibend“ eben jenen Sezessionskrieg heraufbeschwor, der zur Zeit hier tobt. Der Gesuchte heißt wie August Brill selbst (vor seiner Rente war der jetzt 72jährige übrigens Literaturkritiker). Owen ist stark irritiert. Dieses „andere Amerika“ kennt weder den 11. September noch den Irak-Krieg. Dafür ist es mit sich selbst im Krieg. Wann nur, fragt er, haben sich „die Wege dieser beiden Amerikas“ getrennt? Zum Mörder werden will er schon gar nicht. Doch auch in Owens realer Welt, die er im Schlaf wieder erreicht, finden ihn die Auftraggeber und erschießen prompt den Mann, der nicht töten will.

So etwas macht Auster bekanntlich gern: Einen Erzählstrang abschneiden, wenn man gerade Gefallen am „Buch im Buch“ gefunden hat. Es meint so viel wie: Ich könnte bei diesen Figuren noch bleiben. Aber lohnt es sich, in diesem chaotischen Land zu verweilen, in dem Föderalisten unter George W. Bush gegen 16 unabhängige Einzelstaaten kämpfen? Selbst in dem Amerika, aus dem Owen kommt, überlebt man offenbar nur als Zauberer – diesen Beruf übte Owen aus, bis er gerichtet wird. Auster hat also eine Parabel erzählen lassen. Oder lässt er Seitentriebe nur deshalb gedeihen, weil seine erzählende Figur es schlicht liebt, aus jeder Idee „eine Geschichte herauszukitzeln“? Dann hätte man sich für manche mehr Raum gewünscht. Im Entfalten von Geschichten aus wenigen Anfangsstrichen ist Auster nach wie vor ein Meister.

Warum also diese Anspielungen auf ein jenseitiges, keineswegs besseres Amerika? Einen Schlüssel gibt uns Katya in die Hand: Um die Bilder von Titus‘ Tod aushalten zu können, „überspielt“ sie diese täglich „mit anderen Bildern“. Tatsächlich geht es also nicht nur um die Bestandsaufnahme eines Landes, das sich im Kern zu vernichten droht. Wichtiger scheint die Überlagerung selbst: In den Schichten dieses Romans haben sich Terror, Trauer, Krieg eingelagert. Paul Auster bezieht nicht Position. Aber er vernäht die Fäden einer brutalen Gegenwart zu einem Fluidum aus neuen Geschichten. Manche von ihnen vertreiben kurzfristig die Trübsal. Andere stehen neben den Figuren wie Fremdkörper oder lassen einen die Augen schließen, weil man die Details nicht erträgt. Alle haben etwas gemeinsam: Sie sind Teil von Lebens- und Weltgeschichten. Auster verwickelt sie in ein düsteres Zwiegespräch.

 

Paul Auster: Mann im Dunkel. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008, 220 Seiten, 17,90 €. 

Erschienen in der Stuttgarter Zeitung, 2008

Apr 29 06

Felicitas Hoppe: Auf der Reise zur Jungfrau in Waffen

Claus Brunsmann

Es kommt darauf an, die Deutlichkeit zu bekämpfen – Felicitas Hoppes „Johanna“, von Anja Hirsch

 

Geschichten schreiben heißt für Felicitas Hoppe seit je Geschichte schreiben. Und wer die fantastischen Texte dieser mit Rittern einen vertrauten Umgang pflegenden Schriftstellerin kennt, ist mit Sicherheit vor dem Fehler gefeit, bei der Ankündigung von „Johanna“ einen historischen Roman zu erwarten. Es war aber auch nicht abzusehen, dass sich hier ein Schreiben einen derart passenden Stoff sucht; ein Schreiben, das über Raum und Zeit hinwegschreitet wie über nur zur Verwirrung angebrachte Orientierungsmarken. Und wenn es stimmt, dass Geschichte, wie manche Theoretiker meinen, nur durch die Abweichung von der Norm in Gang kommt (durch eine Jungfrau in Waffen, zum Beispiel), dann gilt Ähnliches für die Literatur Felicitas Hoppes.
Auch in ihren Texten reichen sich abwegige Figuren die Hand, um eine bunte Lawine ins Rollen zu bringen. Hätte Johanna geschrieben statt gekämpft, ihre Schrift transportierte wohl den gleichen Übermut wie die Zeilen in Hoppes neuem Roman. Dass dieser andauernde Übermut vor Leerlauf weit gehend geschützt scheint, bleibt eines der Geheimnisse dieser Autorin und ihrer vielstimmigen Prosa. Unnötig zu erwähnen, dass in diesem Roman weniges in bekannte Bezugssysteme passt. Wohl gibt es eine Ich-Erzählerin, die sich offenbar mit Johanna beschäftigt. Eine Prüfung steht an, innerhalb derer sie selbst – wie einst Johanna – einer männlichen Kommission standhalten muss.
Aber das ist nur der ungefähre Rahmen für eine poetische Pilgerreise, die mit einem Prolog beginnt, auf dem Marktplatz von Rouen nicht endet und im Wasser der Seine (wie die Asche Johannas) versinkt. Es gibt einen schlauen, schlaflosen Dozenten na- mens Peitsche, der Mützen faltet, Jahrhunderte durchlebt hat und über Johanna aus erster Hand berichten kann. Und es gibt einen rührig-strengen Professor. Einmal machen alle drei eine Reise. Später ist die Erzählerin mit Bruder Martin unterwegs.
Und wo Erzählungen andernorts erst in Fahrt geraten müssen, beginnt Felicitas Hoppe sofort auf hohem Niveau – in ihrem ganz eigenen Ton, rhythmisch, mit Sätzen, die sich durchaus weigern, Fuß zu fassen, doch ganz und gar haptische Wirkung entfalten: Hoppes Prosa, ständig auf Reisen, lässt sich anfassen, etwa wie Gegenstände, die einem im Traum erscheinen und bei Berüh- rung verschwinden. Und obwohl man es bei aller Munterkeit nicht vermutet, vibriert der Text doch auch um einen Angstkern – um die Frage des Sichtrauens.
„Johanna“ ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Möglichkeiten, nicht nur des Schreibens, sondern des Lebens, der Wahrheitssuche, des Ringens um Entwürfe. Und wer zugibt, wenig zu wissen, muss umso mehr Fragen stellen. Der Roman bildet sich im spekulativen Raum, und so ragt Johanna aus dem 15. Jahrhundert nicht etwa wie eine starre Galionsfigur in unsere Zeit. Felicitas Hoppe, inspiriert von der Lektüre der historischen Prozessakten, nähert sich ihrer Figur fast inquisitorisch.
Und während man noch mit überlegt, ob Jeanne d’Arc gelacht hat, aus Langeweile gekämpft, eine „Streberin Gottes“ war oder „bloß allein“, schält sich aus dem Eingeständnis der Unmöglichkeit einer Rekonstruktion eine zeitlose Gestalt mit schillerndem Charakter. Hoppe unternimmt gewissermaßen einen Abgleich von Größen – und zieht poetisch eine radikale Konsequenz. Denn wer sich auf der Ebene von Sprache mit einer starken Frauenfigur messen will, braucht ein breites Arsenal von Bildern, Szenen, Gesten. Kurzum: „praktische Einbildungskraft“.
Diesbezüglich ist in „Johanna“ eine Meisterin am Werk, die zudem um die Fallhöhe weiß. „Wie klein wir sind, wenn der Morgen anbricht, der uns mit einem Licht versorgt, das alles erbärmlich ins Deutliche rückt.“ Die Deutlichkeit ist schon immer eine der größten Feindinnen gewesen. Felicitas Hoppe hat ihr eine Vielfalt entgegenzusetzen, die ihresgleichen sucht.


Felicitas Hoppe: Johanna. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 171 S., 17,90 Euro.

Erschienen in der Stuttgarter Zeitung, 4. Oktober 2006

 

Okt 30 18

Gerhard Roth: Entdeckungen im Inneren von Wien

Claus Brunsmann

Wäre Gerhard Roth nicht Schriftsteller geworden, beugte er sich wohl gerade, etwa als Insektologe, über die besondere Spezies eines Schmetterlings. Vielleicht arbeitete er auch als Wurmspezialist wie jene „feine Dame“ im Naturhistorischen Museum von Wien, „die jedes einzelne ihrer Tausenden, in klarem Alkohol und Zylindergefäßen aufbewahrten Tierchen liebt“. Jetzt, als Autor, liebt Roth die Tiere, die Menschen, die Gegenstände, weil sich hinter manchen eine schöne Geschichte verbirgt. Und weil er sie nicht alle kennt, lässt er in seinem neuen Buch „Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien“ oft Andere davon erzählen.

Die in Gerhard Roths Innerem kleingeschrumpften Biologen, Geologen, Historiker, Mediziner (mit dem gleichnamigen Hirnforscher teilt er übrigens nur das Geburtsjahr 1942) hat man über die Jahre seines literarischen Schaffens immer wieder herausgehört. Sie luden ihre kleinen Details bereits in Roths Essays und Romanen ab, die monolithische Titel tragen wie „Der See“, „Der Plan“, „Der Berg“, „Der Strom“ oder „Das Labyrinth“. Roths Romane verwandeln sich tatsächlich oft in wuchtige Wissenslabyrinthe, an denen seine Figuren allmählich irre gehen, wenn sie es nicht schon von Anfang an sind. Und auch die Leser wissen nicht immer Sinn und Zweck dieses Aufgebots an Wissen, bleibt doch am Ende oft ein geheimnisvoller, ungelöster Rest.

Die Stadt Wien nun, die unterirdische ebenso wie die oberirdische, ist Gerhard Roth ans Herz gewachsen. Seit 1986 durchforscht er sie, und schon einmal war ein Buch aus diesen Essays, die er für die ZEIT und die FAZ schrieb, daraus hervorgegangen („Eine Reise in das Innere von Wien“, 1991). Viel Text ist seitdem nachgewachsen. Roths Vorgehen wirkt dabei immer planvoller. Nie ist er nur Journalist, nie nur Sammler für einen Lexikonartikel. Obwohl er alles das zugleich auch ist. Sobald aber Gefahr besteht, dass eines von beiden überwiegt – das Auflisten von Informationen oder das Sich-Verlieren in einer schönen Nebengeschichte – nimmt Roth Zuflucht in einer intimen Gedankenbucht: Hat nicht das Wiener Nachtpfauenauge, das sich einmal mehr als eine Stunde lang auf Roths alter Eingangstür niedergelassen hatte, mehr Zugkraft als alle die hinter Vitrinen gefangenen Schmetterlinge des Museums zusammen? Von seinen Essays geht ein geheimnisvolles Netzwerk aus, horizontale wie vertikale Linien. Sie ergeben mysteriöse Pfade und führen unversehens von der getanzten Sprache eines Bienenschwarms über die Gebärdensprache der Gehörlosen bis hin zu jenem blinden Pfarrer, der sich von seinen Gehilfen schildern lässt, was diese gerade beobachten.

Eigentlich macht Gerhard Roth nichts anderes, wenn er etwa mit dem Direktor des Wiener Uhrenmuseums ehrfurchtsvoll durch den „Zeittempel“ läuft, vorbei an den „Phantasieuhren“, welche die Autorin Marie von Ebner-Eschenbach sammelte. „Man finde überall“ – lässt er den Uhrenkenner sprechen, der eine dieser Uhren „in den Handschuhen hält“ – man finde überall „einen verborgenen Knopf, den man drücken müsse… Ein Deckel springe dann auf, und man könne die Zeit ablesen.“ Und während Roth von diesen Führungen stets im sanft trabenden Konjunktiv erzählt, passiert etwas ganz Wunderbares: Die Menschen selbst, jene Wissensspeicher aus Museen und Instituten oder deren Bewohner, treten aus den Texten als manifeste Figuren hervor – selten befragt, obwohl sie doch so viel Spannendes zu erzählen haben. Dann ziehen sie sich wieder in ihre Archive, Schädelgänge, einsamen Labore oder Schulräume zurück.

Gerhard Roth, das erklärt er immer gerne, ist ein Liebhaber von Zeichen. In Wien nun macht er jenseits der allgemeinen Touristenströme seine ganz eigenen Wundertruhen auf und zoomt sich vom Großen zum Kleinen, vom Meteoriteneinschlag in rasanter Erzählgeschwindigkeit herunter zum niedersten Insekt, so ausdauernd, bis man meint, man halte die Ührchen und Würmchen selbst in den Händen. Am Ende, nach weiteren Besuchen in den Kunstkammern der Habsburger, dem Blindeninstitut, dem Bundes-Gehörloseninstitut oder dem Flüchtlingslager Traiskirchen, meint man, selbst Wahrnehmungsübungen unterschiedlichster Art mitgemacht zu haben. Und manchmal macht sich dann das typische Gerhard-Roth-Gefühl breit, das einen überall nach Bedeutung suchen lässt. Roth selbst konstruiert aus den Mauerflecken seines Hauses oder der Beobachtung Wiener Krähen seine persönliche Stadtkarte der österreichischen Hauptstadt. Und stellt – das ist seine größte Kunst – Fakten selbsterklärend nebeneinander, bis sich in seinen scheinbar unbehauenen Essays die Zusammenhänge dann wie von selbst ergeben.

Was also ist Roths Wien-Buch? Ein Lexikon ohne Register, eine Fundgrube für abgebrühte Wienkenner? Dies alles, aber eben auch mehr – denn Roth hinterlässt selbst wieder Spuren. Man mag das postmodernes Erzählen nennen – tatsächlich legt Roth ja gewissermaßen Wiens Wurzelgeflechte frei. Oder man sieht in seinem Buch einen Erlebnisparcour ohne Versicherungsschein – denn es kann sein, dass die Leser am Ende dieser Textsammlung wie abgefütterte Schüler hilflos unter dem Ballast der Fakten zusammenbrechen. Wer das aber aushält, wird auf jeder Seite reich belohnt. Der Echoraum, den diese großartigen Rundgänge bisweilen entfachen, kann dann gewaltig hallen.

Gerhard Roth: Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien. Frankfurt a.M., S. Fischer Verlag, 550 Seiten, 20,95 €.

Erschienen in der Frankfurter Rundschau, 2009