Die Kunst, sich wundern zu können

ein Nachwort zu Gesprächen mit Wilhelm Genazino aus den Jahren 2006/7
in Schreibheft – Zeitschrift für Literatur, März – Mai 2020, hg. von Norbert Wehr, S. 83-127

„Kein Mensch ist darauf gefaßt, daß er sich selbst ein ganzes Leben lang nahe sein wird.“ Mit diesem Satz, in dem kindliches Erstaunen und anhaltender Schrecken gleichermaßen mitschwingen, eröffnet Wilhelm Genazino 2006 einen Vortrag, den er auf Einladung vor Psychoanalytikern hielt. Von diesem Publikum geschätzt worden zu sein, spricht für das
psychologische und soziologische Wissen eines Schriftstellers und Essayisten, der in seinem Werk unverblümt die Abgründe menschlicher Existenz ausleuchtet.
Kulisse dafür ist die Stadt mit ihren Kontrasten. In diesem Revier läßt Genazino seine Figuren Beobachtungen machen. Allem gewinnen sie Bedeutungen ab oder entblößen Verstecktes, Menschliches. Anfangs bewegen sie sich in engen Bahnen wie der Angestellte Abschaffel in der gleichnamigen Trilogie. In späteren Romanen und Berufen (Schuhtester, Apokalyptiker) tänzeln sie mit großer Leichtigkeit, wenngleich auch hier immer spürbar nah am Abgrund. Mal überwiegt die Resignation, mal das Bezaubertsein. Sie sind Urheber und zugleich Gefangene ihrer eigenen „unablässig tätigen Zurechtfindungsmaschine“. Daß
sie altmodisch wirken, fast so, als lebten sie immer noch in den 50er Jahren, ist dabei kaum verwunderlich. Es ist die Zeit, die Genazino selbst am meisten geprägt hat.

Ich lernte Wilhelm Genazino durch meine Doktorarbeit kennen und führte 2001 erste Interviews mit ihm. 2006, die Arbeit war gerade erschienen, folgten die hier erstmals veröffentlichten Gespräche mit der vagen, letztlich nicht verwirklichten Idee, sie für eine Biographie zu nutzen. Für Genazino war es die Zeit des Erfolgs, der 2004 mit der hymnischen Besprechung des Romans Ein Regenschirm für diesen Tag im „Literarischen Quartett“ eingesetzt hatte. Im selben Jahr erhielt er den Georg-Büchner-Preis, drei Jahre später den Kleist-Preis. Pflichtschuldigst und mit einem gewaltigem Pensum an Lesungen diente er jedem neuen Buch. Sein Staunen über den Erfolg minderte jedoch nie die Angst vor dem Scheitern. Er wußte genau: Das Blatt könnte sich wenden. Das hatte er bei seinem eigenen Vater gesehen. Oft schrieb er darüber – wie über vieles andere, an das er sich in unseren Gesprächen erinnert. Die „Panik der nie richtig erzählten Geschichte“, die immer wieder neu erzählt werden muß, trieb ihn um und an. Er erzählte aber nicht gegen, sondern mit ihr – vielleicht selten so zwingend wie hier vor dem Hintergrund der Frage: Wie wird einer, was er ist?

Darauf geben die Gespräche mögliche Antworten. Zugunsten der Lesbarkeit wurden die Mitschriften gestrafft und geordnet, Hauptthemen zusammengeführt, unterbrechende Fragen gestrichen. Zentrale Motive der frühen Biographie rücken so enger zusammen und zeigen eine Entwicklung. Das vorangestellte Zitat mag bewußt machen, daß diese biographische Selbsterzählung kaum mehr sein kann als ein Findungsprozeß, möglicherweise auch eine Erfindung. Hinter manches darf man ruhig ein Fragezeichen stellen. Daß Erinnern und Erfinden absichtslos ineinander übergehen, wußte kaum jemand besser als Wilhelm Genazino selbst.
Wer ihn privat oder am Rande von Lesungen erlebt hat, dem steht er beim Lesen der Gespräche mit seinem ganzen Temperament sofort vor Augen. Wie herzhaft er lachte! Wie grandios er sich über etwas wundern konnte! Er wunderte sich zum Beispiel über Rucksäcke und was die Menschen alles mit
sich herumschleppen. Er wunderte sich über „gemächliche, amerikanische Mittelwestromane“ oder darüber, daß Kultur aus Mangel entsteht.
Mehr als über die „Gesamtmerkwürdigkeit“ allen Lebens wunderte sich Genazino aber über sich selbst: über dieses „Kind stiller Nachkriegseltern“ und den kaum Erwachsenen, der mit großer Geste seinen ersten Roman anbietet, ohne zu merken, daß der Text „vollkommen redundant“ ist und der Erzähler „wie ein Kleinkind, das nur drei Sätze kann“, die Klage über die Kommunikationslosigkeit der Eltern ständig wiederholt. Dazu sein Mienenspiel, das kritische Augenbrauen-Hochziehen, die leise Selbstironie, die unvermittelt kippte – in Empathie, die wiederum von Scham begleitet war, über deren Andauern er sich ebenfalls nicht genug wundern konnte.

Die langen Pausen zwischen manchen Sätzen muten an, als müßte er dem Gesagten nachhören, um sich selbst verstehen zu können. Die Momente des Stockens erwecken den Eindruck, daß hier jemand nicht Herr über seine eigene Geschichte sein könnte. Es reicht eben vielleicht doch nicht, sie reflektiert zu haben. Die Umwälzung dieses Materials durch Schreiben, das „Einkörpern“, das bestenfalls zum Annehmen der Lebensumstände führt, bändigte bei weitem nicht alles.

Literatur sei „der Versuch, mit einem Schmerz zu sprechen“, schreibt Wilhelm Genazino in seinem Essay „Der gedehnte Blick“. Für seine eigene Prosa gilt das ganz besonders. Um mit einem Schmerz sprechen zu können, braucht es Abstand, den Blick eines am Rande Stehenden. Unkenntlich und verborgen, aus Häuserwinkeln und Passagen, sammelt Genazinos Spiel- und Spiegelfigur, jener fast austauschbare, bis auf eine Ausnahme immer männliche Erzähler aller Romane, Wahrnehmungen, als müsse er Sozialstudien betreiben. Zu nah herankommen an Menschen und Situationen darf er dabei nicht, sonst sieht er unscharf oder Ungewolltes. Zu weit sich entfernen aber auch nicht, sonst droht ihm Vereinzelung, gar Irrewerden. Das
Unglück ist das der Figur. Ebenso das Glück, das sich in pointierten Wortschöpfungen mitteilt.
Die beständige Analyse von Scham- und Schuldgefühlen führt ins Mark jener bundesrepublikanischen Gesellschaft, die im Nachkrieg zu schnell vergessen wollte und sich allzu gern ablenken ließ. Genazino diagnostiziert eine alles lähmende Trägheit bei gleichzeitiger Überaufgeregtheit, die oft genug ins Leere läuft.
Am deutlichsten hat er dies in seinem Roman Mittelmäßiges Heimweh entfaltet, in dem der Protagonist gleich zu Beginn ein Ohr verliert, später noch einen kleinen Zeh. Das Ungeheuerliche ist, daß kaum jemand dies registriert. Das Katastrophengefühl bleibt ein ganz privates und muß auch privat verarbeitet werden. Das Maß des Abstands entscheidet darüber, ob das Wahrgenommene beruhigt oder bedroht. Ein unglaublicher Balanceakt ist das, den zu beherrschen mit den Jahren und Romanen den Protagonisten immer schwerer zu fallen scheint. Sie werden dünnhäutiger. Immer weniger vermögen sie ihre Eindrücke zu sublimieren. Und als im letzten Roman Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze die bekannten Motive in einer Rasantheit einander abwechseln, daß einem fast schwindlig wird, weiß man nicht mehr: Ist das manisch? Oder radikal?

Abstand zu gewinnen versuchte auch Genazino selbst. In seinen Essays legte er Schmerz und Melancholie und all diese Affekte auf den Seziertisch. Um sie zu verstehen, untersuchte er ihre Abwehrmechanismen: „Verdrehen, Vergessen, Vergehen, Verschmerzen“, so lautet der Titel seines
Vortrags vor den Psychoanalytikern. Und wer etwa eine Erklärung von ihm wünschte, was ein Trauma für den Traumatisierten bedeutet, dem zeichnete er mit dem Finger die Form einer Ellipse in die Luft: Auf einer solchen Umlaufbahn bewege sich der Traumatisierte um die große Wunde herum. Mal
sei er der Wunde so nah, daß es nicht auszuhalten sei; mal so weit davon entfernt, daß die Wunde zu verschwinden scheine.
Ob so einer wie er, mit seiner Freude an blitzlichtartig auftretendem Schönen, so etwas wie eine Vorstellung von Transzendenz hatte? Eine Antwort versuchte ich ihm zumindest zu entlocken. Wer so oft von der „universellen Unerlöstheit“ schrieb, würde sich freilich nicht festlegen. Immerhin beschrieb er aber einen Ort: Er stehe wohl irgendwo zwischen Erstarrung und Erlösung. Genau in der Mitte. Denn: Beides tritt nicht ein. „Sondern es kommt der nächste Tag.“
Dieser Satz ist sicherlich der schlichteste in der Sammlung großartiger Genazino-Sätze. Aber gerade deshalb, nach seinem Tod im Dezember 2018, vielleicht auch der tröstlichste.

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