Eileen Chang: Das Reispflanzerlied
„Der Sonnenschein lag wie ein alter gelber Hund quer über der Straße und versperrte den Weg. Hier war die Sonne alt geworden.“ Hier – das ist in Eileen Changs 1955 in ihrem amerikanischen Exil erstpublizierten Roman „Das Reispflanzerlied“ die bedrückende Enge eines kleinen Dorfes im Süden Chinas Anfang der fünfziger Jahre. Nach der Bodenreform treten Versprechungen nicht ein. Als die hungernden Bauern auch noch genötigt werden, ihren kärglichen Rest – nach Abgaben an die Kommune – Soldatenfamilien während Chinas Koreakrieges zur Verfügung zu stellen, kommt es zu einem Aufstand. Und so ist der Satz „Hier war die Sonne alt geworden“ keineswegs eine hohle Metapher, sondern ahnungsvolles Zeichen einer untergehenden, traditionellen Lebensweise, die keinen rechten Ort mehr hat. Noch redet man sich an mit „vierte“ Tante, begegnet einander „mit scheuer Würde“, hat Schamesröte im Gesicht, wenn man spricht. Die Genossen der kommunistischen Kader aber tragen stolz Fettflecken auf ihrer Uniform – der schwere Dienst am Volk lässt Körperpflege eben nicht zu. Und doch gerät dieser Klassiker der chinesischen Literatur keineswegs zu einem antikommunistischen Pamphlet. Denn Gewinner und Verlierer auszumachen, fällt schwer; alle sind sie Opfer eines die menschlichen Beziehungen im Kern zerstörenden Wertesystems.
Wegen dieses genauen, psychologischen Blicks auf die Gesellschaft war die 1920 geborene Schriftstellerin Eileen Chang, eigentlich Zhang Ailing, schon in den 40er Jahren im japanisch besetzten Schanghai ein Star. In ihrer berühmtesten Novelle „Das Goldene Joch“ (1943) beschrieb sie, wie Dekadenz Traditionen zerstört. Jenseits einer damals allgegenwärtigen, apolitischen Unterhaltungsliteratur etablierte sie in nüchternem Stil eine präzise, wachsame Prosa. Sie deutete Beziehungskonflikte nicht als geschichtslose, individuelle Dramen, sondern als endloses Zwangsspiel zwischen alter und neuer Zeit, zwischen Ritual und neumodischer Eleganz. Und sieht man Ang Lees großartige Verfilmung ihrer Erzählung „Gefahr und Begierde“ (2007), der es gelingt, winzige Gesten, etwa ein schlagartig alles verändernder Augenaufschlag, minutiös einzufangen, ahnt man, was wohl erst die zugrunde liegende Prosa im Kleingliedrigen vermag.
Noch heute entfaltet sie ihre Kraft deshalb nicht nur dank der mitgelieferten politischen Analysen. Stärker noch als die Überlebenskämpfe der Dorfbewohner im chinesischen Hinterland, brennt sich dem Leser die zarte Hilflosigkeit des Paares ein, von dessen letzten Wochen vor einem grausamen Tod hier erzählt wird. Eileen Chang verfügt über eine fast spröde Syntax, die einen lange in Ruhe wiegt, so, als werde hier noch mit Unterstützung des Erzählers jede Zwietracht bemüht unterdrückt – bis überraschend ein scharfer Satz mitten in einer scheinbar harmlosen Konversation früh Abgründe aufblitzen lässt. Wenn Jin’gen, der Mann, etwa seine nach drei Jahren Geldverdienen aus der Stadt heimwandernde Frau Yuexiang im Dunkeln herannahen sieht und erste, fremdelnde Sätze tauscht, heißt es lapidar: „Er ging neben ihr her. Der durchnässte Strumpf umfing seine Fußspitze mit eisigem Griff, doch er war froh um dieses Gefühl; es war der Beweis, dass er nicht träumte. ‚Hast du auch den Schwager gesehen?‘, fragte er.“
So schnell diese hoffnungsvollen und zum Scheitern verurteilten Figuren in jenen Begegnungen zum Belanglosen übertreten, so frappierend können sie auch entgleisen. „Warum stirbst du nicht?“, sagt einmal erbost die entnervte Yuexiang zu ihrer quengelnden Tochter A Zhao, die so heißt, weil sie etwas „herbeiwinken“ soll – nämlich ein Brüderchen. „Aber da die Mutter in den letzten Jahren nicht anwesend war, hatte A Zhao umsonst gewinkt.“ Immer wieder lässt einen die Autorin mit solchen ins Nichts fallenden Sätzen zurück. Wie kantige Kristalle ragen sie aus dieser uralten Kultur, die allerorts von Propaganda unterwandert wird. Nie gibt die Autorin dabei ihren Stoff aus der Hand – den Hunger, aber eben auch die innere Zerrissenheit der Genossen, die Freunde und Verwandte im Dorf richten müssen, allein gelassen von der Partei, die sie zwingt, den Bauern das Geld abzupressen. Changs Gabe besteht darin, alle diese privaten Schicksale wie Stillleben zu zeichnen: „Beide saßen sie der Sonne zugewandt; er etwas vor ihr. Die Sonne segelte langsam hinter die Wolken und kam ebenso langsam wieder hervor. Viele Male verdunkelte sich die Welt und wurde wieder hell, aber Mann und Frau sprachen kein einziges Wort miteinander.“
Dass poetische Bilder und Klarheit der Aussage sich hier so schön vermischen, mag vielleicht daran liegen, dass Eileen Chang 1952 in dieser von Amerika geförderten Auftragsarbeit, noch in Hongkong wohnend, zum ersten Mal in einer ihr fremden Sprache, in Englisch schreibt. Lob gilt hier vor allem der Übersetzerin Susanne Hornfeck, die deshalb bewusst diese englische Fassung unter Berücksichtigung der später von Eileen Chang selbst besorgten chinesischen Fassung herangezogen hat. Das englische Original hat nicht nur ein brutaleres Ende, das in Zeiten des kalten Krieges schärfere Konturen zog. Es klingt auch direkter und, so die Übersetzerin, weniger blumig als das Chinesische, was die schlanken, knappen Sätze dieser neuen Fassung wunderbar spiegeln. Und enthielt die einzige deutsche Fassung aus dem Jahre 1956 von Gabriele Eckehard noch altertümelnde, eingedeutschte Namen wie „Mondesduft“ oder „Goldwurzel“, begegnet man jetzt wieder den Originalnamen aus der chinesischen Fassung.
So taucht man umstandslos ein in diese Zeit und wird Zeuge, wie langsam Etiketten und Höflichkeit zerbröseln, weil diese Menschen Spielball einer größeren Macht geworden sind. Was das auch für die zensierte chinesische Kunst bedeutet, deren Opfer Eileen Chang selbst war, erzählt eine parallele Geschichte: Ein Genosse kommt ins Dorf, um einen Film zu drehen – auch er nur auf der Suche nach propagandistischem Bildmaterial. Das nimmt perfide Ausmaße an, denn am liebsten wäre ihm ein kaputter Damm, um zu zeigen, wie ein Ingenieur aus der Stadt mit den Bauern über Lösungen nachdenkt – „ein Sinnbild für die Einheit von technischem Können und bäuerlicher Erfahrung“. Leider aber tritt der Fluss nie über die Ufer. Doch als später der Getreidespeicher brennt, nimmt das Drehbuch endlich Form an. Da hat die staatlich verordnete Melodie des „Reispflanzerlieds“, das man zur Ernte summt, längst Tote gefordert. Der Film, den die Städter zu sehen bekommen, wird sich darüber ausschweigen.
1955 tauscht Eileen Chang ihre Heimat endgültig gegen Amerika. Zwei Ehen liegen hinter ihr, als sie 1995 in Los Angeles stirbt. Mit Übersetzungen und Lehrtätigkeit hatte sie sich über Wasser gehalten, nachdem der Ruhm der 40er Jahre schwand. Unter den Kommunisten, die 1949 an die Macht kamen, galt die stille Beobachterin dekadenter Auswüchse – Ironie des Schicksals – nun selbst als dekadent und bürgerlich. Eileen Chang hinterlässt ein schmales, im englischsprachigen Raum viel bekannteres Werk, das es – mit diesem Roman und dem Erzählungsband „Gefahr und Begierde“ (2008) – in Deutschland noch zu entdecken gilt.
Eileen Chang: Das Reispflanzerlied. Roman. Aus dem Englischen unter Berücksichtigung des Chinesischen und mit einem Nachwort versehen von Susanne Hornfeck. Claassen Verlag, Berlin 2009, 222 Seiten, 19,90 €.
Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2009