Wilhelm Genazino: Die Angst war überflüssig

Anja Hirsch (Frankfurter Rundschau) im Gespräch mit Wilhelm Genazino.

Interview

Alles wie immer? Der Angestellte und Frankfurt-Flaneur Dieter Rotmund ist ein typischer Genazino-Held: durchschnittlich melancholisch, aber gefasst – selbst dann noch, als seine Frau ihm gesteht, sie könne seine Stimme nicht mehr hören. „Mittelmäßiges Heimweh“, der neue Roman des Büchnerpreisträgers von 2004, handelt wieder einmal vom Innenleben eines Mittelmäßigen. Aber eines ist diesmal anders: Es lösen sich Körperteile von ihren Besitzern, und seltsamerweise scheint das lange keiner zu bemerken.

Frankfurter Rundschau: In Ihrem neuen Roman Mittelmäßiges Heimweh fällt einem Mann ein Ohr ab, später ein kleiner Zeh. Wie nehmen denn Ihre Leser das auf?

Wilhelm Genazino: Ich bin irritiert und auch beruhigt, dass sehr vielen Lesern, mit denen ich bis jetzt schon gesprochen habe, das Gefühl, dass sie zuweilen ein Körperteil verlieren, dermaßen vertraut ist, dass man es ihnen nicht erklären muss. Der Leser nimmt die Sache als Gefühl auf. Er ist klüger als der bloß den Realismus verfolgende Theoretiker, der immer gleich erklärt haben möchte: Wie soll man das denn jetzt verstehen?

Die Psychoanalytiker würden sagen: Klarer Fall von Kastrationsangst.

Und damit wäre der Fall auch schon erledigt. Diese Lesart greift mir doch entschieden zu kurz.

Nietzsche schrieb: „Das Ohr ist das Organ der Furcht.“ Warum muss sich Ihr Ich-Erzähler gerade vom Ohr verabschieden?

Ein schöner Satz – aber das hatte bei mir schlicht praktische Gründe: Das Körperteil musste klein sein. Sein Verschwinden durfte nicht übermäßig auffallen.

Offenbar fällt es auch nicht auf, jedenfalls fragt niemand nach dem Ohr.

Ja, das fehlende Ohr – die Katastrophe – wird sofort Alltag. Ähnliches macht man ja etwa mit einer Reportage über ein Erdbeben – die Menschen entfernen es in irgendeine traumartige Weite, die von ihrem realen Leben ganz weit entfernt ist.

Würde es Ihren Helden beruhigen, wenn man ihn auf sein fehlendes Ohr anspräche?

Das wäre Temperamentssache. In meinem Bekanntenkreis gibt es Menschen, die unter bestimmten Einschränkungen leiden. Und die wollen darauf angesprochen werden, damit sie selber darüber sprechen können. Es gibt ihnen dann eine gewisse Genugtuung, auch ein Leidensdarsteller zu sein. Aber es gibt ebenso viele Beispiele für die andere Sorte von Menschen, die darauf nicht angesprochen werden wollen. Es wurde ihnen selber überdrüssig, sich mit einem Leid zu profilieren.

Es irritiert aber doch, dass alle sich ganz schnell an diese Ohrklappe gewöhnen, die der Mann da mit sich herumträgt.

Ja, aber er selbst sieht das nicht. Er meint: Alle anderen beobachten ihn. Alle fordern Erklärungen von ihm. Und er will ununterbrochen wissen: Ist denn eine neue Weltseuche im Ankommen? Läuft die Apokalypse, ist sie jetzt endgültig angebrochen?

Und – ist sie? Er scheint ja nicht der Einzige zu sein, dem Körperteile abfallen. Man denkt sofort an das Jüngste Gericht. Ist das impliziert?

Das kommt auf den Echoraum an, den der Leser für sich öffnet. Es ist völlig richtig, dass in den Religionsgeschichten die Gottesstrafe vor Seuchenmaßnahmen nicht zurückschreckt. Selbst die menschlichen Gerichte haben diese apokalyptischen Strafen für sich eingeführt. Denken wir an die im Mittelalter noch praktizierten Strafen, dass ein Gericht einem Dieb die Hand abhackte. Das ist auch ein Körperteilverlust, und zwar einer, der als Strafe verhängt ist.

In Ihrem letzten Roman, Die Liebesblödigkeit (2005), gibt der Held Seminare über die Apokalypse. Jetzt ist sie eingetreten. Mittelmäßiges Heimweh – ein Fortsetzungsroman?

Man kann das als Anwendung der Theorie lesen, es wäre mir aber zu eindimensional. Dass irgend etwas verseucht ist, das ist ja in unserer Gesellschaft längst eingedrungen. Mal ist es das Wasser, mal das Fleisch, mal das Blut. Wir sind ja alle gewiefte Apokalyptiker. Die plötzlich eindringende Seuche ist ein Modell, das sowohl für die Literatur gilt als auch für die eingetretene Wirklichkeit.

Ihr Held wird trotzdem Finanzchef. Kann sein Schrecken mit niemandem mehr geteilt werden?

Es kommt darauf an, zu sehen, dass die ganze Sorge, ob man ihm seine Beschädigung ansieht oder nicht, ihrerseits längst vergesellschaftet ist. Alle anderen wissen, dass sie selbst auch einsam sind. Aber alle anderen haben sich längst darüber verständigt, dass man sich darüber nicht mehr besonders aufregen muss. Nach Lage der Dinge ist das unser Schicksal. Nur der Einzelne, der das nicht weiß, denkt, er sei eine Ausnahme. Das, wovon er glaubt, es sei eine individuelle Befindlichkeit, ist als individuelle Befindlichkeit längst vergesellschaftet. In Wahrheit hat man seine Isolationsgefühle längst für ihn mitgedacht.

Seine Angst, nun auch beruflich geächtet zu werden, war also im Grunde überflüssig?

Ja, das ist besonders merkwürdig: Seine ganze Angst war vergeblich. Das erinnert an den großartigen Satz von Kafka, der mir jetzt einfällt, über seine Angst: dass die ganzen Ängste, die er hatte, möglicherweise völlig überflüssig waren.

In Ihren Büchern wimmelt es von sogenannten Randfiguren der Gesellschaft, doch sie kommen selten selbst zu Wort. Wird es einmal einen Roman aus der Sicht eines Obdachlosen geben?

In meinen Augen ist der Controller ohne Ohr eine Nebenfigur. Er ist eine Dutzend-Erscheinung, ein Nobody, ein Angestellter, der seinen Arbeitstag hinter sich bringt.

Aber eine Dutzend-Erscheinung sagt nicht Sätze wie: „Die ruhige Betrachtung unfähiger Menschen bringt Versöhnung hervor.“

Man muss dem Text zugute halten, dass er offen hält, von wem der Satz kommt. Genau genommen wird hier ein Satz eingeschmuggelt, der offen lässt: Wer sagt ihn eigentlich? Insofern macht der Schriftsteller von einem alten Trick Gebrauch, dass nämlich derartig bedeutsame Sätze völlig herrenlos im Text herumschwimmen. Man kann sich den Kopf krummdenken, um herauszufinden: Wer soll das denn jetzt gesagt haben? Es gibt doch immer wieder diese herrenlos hereinströmende Bedeutsamkeit.

Ihr Buch hört eigentlich da auf, wo José Saramagos Buch Die Stadt der Blinden anfängt.

Nichts gegen den verehrten Kollegen Saramago, den ich sehr schätze. Aber ich wollte das nicht gesellschaftlich verhandelbar machen, weil ich dann gefürchtet hätte, in einer schlechten Science Fiction zu enden. Diese Art von gesellschaftlichem Realismus interessiert mich nicht. Mich interessiert das Subjekt und die Ratlosigkeit, wo es mit seiner Angst hin soll.

Mittelmäßiges Heimweh, 189 Seiten, 17,90 Euro, Carl-Hanser-Verlag.

Erscheinungsdatum 30.01.2007