Karl Friedrich Borée: Frühling 45

Frühling ’45 kurz vor Kriegsende in Berlin. Herr Stein ist mit Frau und 28jähriger Tochter mit letzten Habseligkeiten unterwegs, raus aus der Gefahrenzone im Stadtzentrum. Am äußersten Zipfel Berlins, vermutlich Frohnau nachempfunden, wo der Autor dieses Romans selbst letzte Bombennächte erlebte, wartet ein neues Quartier. „Wir gingen schweigend, zweifellos machte uns alle drei der Eindruck des anderen stumm; aber mich drosselte auch die Angst vor der abgründigen Unzuverlässigkeit der Dinge, die uns die Zeit gelehrt hatte.“ Ein Zeitzeuge schildert unsentimental und doch fesselnd diese Ausnahmezeit um die sogenannte „Stunde Null“. Er gewährt Einblicke in gerade noch geöffnete Büros oder in das letzte Restaurant, das noch auftischt, ein unwirklicher Ort mitten in Ruinen.

Die Atmosphäre des Niedergangs blitzt in Momentaufnahmen auf, während diese kleine, sich ständig erweiternde Überlebensgemeinschaft um Familie Stein die Villa eines geflüchteten Naziobersts bezieht: „Die Zimmer widersetzten sich uns. Wir kamen uns unanständig vor. Eine Wohnung ist ein weites Kleid; ich ziehe nicht gern fremde Sachen an. Vor allem nicht heimlich.“

Erstaunlich, dass man den Autor Karl Friedrich Borée kaum kennt. Geboren 1886, wächst er unter dem Namen Friedrich Karl Boeters in einem Görlitzer Arzthaushalt auf. „Borée“ nennt er sich nach der Großmutter. In Königsberg und Berlin arbeitet er als Jurist und schreibt: Romane, Essays, Artikel. „Frühling 45. Chronik einer Berliner Familie“ entstand 1948 entlang der Tagebücher. Es gilt als Borées Hauptwerk und ist allein aus sprachlicher Sicht eine echte Entdeckung. Borée verfügt über einen unwahrscheinlichen Wortschatz und Wortwitz. Er schreibt trocken, lakonisch, auch mal an den grässlichen Umständen implodierend. Er wirkt wahrhaftig und gegenwärtig.

Der Ich-Erzähler namens Stein ist Borée vermutlich zumindest geistesverwandt. Er ist die tragende Säule des Romans, ein sprachgenauer Feingeist, leidenschaftlicher Demokrat und Denker. Noch geht er täglich zur Arbeit im Archiv einer großen Berliner Bank, bis die Angriffe alle Gänge unmöglich machen. Sein Herz aber hängt an einer Kultur-Zeitschrift, die längst nicht mehr erscheinen darf. Spannend deshalb auch die geschilderten Umstände nach russischer Eroberung und Neusortierung. Im amerikanischen Sektor darf die Zeitschrift entstehen. Sie wird zum Sinnbild eines Neuanfangs. Tendenz: „ein Sozialismus im Namen der Humanität“. Stein will „einer Gesellschaft, die atomisiert war, die überhaupt keine Gesellschaft mehr bildete“, einen Unterbau schaffen. Der „Frondeur der Theorie“, wie er sich selbstkritisch nennt, lebt regelrecht auf, wenn er denken darf. Er grübelt über Begriffe wie „metaphysisches Schuldgefühl“. Und wenn er mit Schwebel, einem Bekannten, vorbereitend auf den Machtwechsel in diesen letzten Kriegswochen zum Russisch-Lernen zusammentrifft, läuft er gar zu diskursiver Hochform auf. Was für ein originelles Debatten-Duo! Schwebel kontert mit indischer Philosophie und entschuldigt vieles. Stein beharrt und hakt nach: War der Mord schon in der Welt? Oder haben die Menschen den Mord erst in die Welt gebracht?

Als „Frühling 45“ 1954 im Darmstädter Schneekluth Verlag erscheinen konnte, waren Fragen nach Schuld noch wenig erwünscht. Dass der Autor so verschwand, liegt also auch am unglücklichen Zusammentreffen von Zeit und Werk. Borées Erstling, die Liebesgeschichte „Dor und der September“ (1930) ist noch ein Verkaufsschlager, gepriesen etwa von Vicky Baum. Danach wird es schwer. 1936 veröffentlicht der im Ersten Weltkrieg lebensgefährlich Verwundete den Antikriegsroman „Quartier an der Mosel“, der verboten wird. Weitere Werke sind unverfänglicher, was nicht heißt, dass er sich anpasste. Das Hadern mit sich selbst und die unablässige Suche nach Gründen für die Verführbarkeit der Menschen prägt seine Werke. „Diesseits von Gott“ (1941) ist ein Aufruf zur Humanität. „Ein Abschied“ (1951) erzählt vom Untergang Königsberg. „Semiten und Antisemiten“ (1960) ist ein Gedenk- und Erinnerungsbuch an Freunde und Bekannte mit jüdischem Hintergrund, das auch radikal die eigene Rolle hinterfragt. Nach dem Krieg geht Borée, seit 1946 Mitglied der SPD, gegen die neuen Diktaturen im Osten vor. Als Theaterkritiker, Kolumnist und Mitglied verschiedener Schriftstellerverbände bezieht er Stellung. Nach seinem Tod 1964 in Darmstadt – er litt an Parkinson – geraten seine Werke in Vergessenheit.

Ein Glück also, dieses Dokument einer Umbruchszeit wieder lesen zu können. Es ist Lebensphilosophie und hautnahe Alltagsbeschreibung, gefiltert von einem Erzähler, der nicht recht weiß, ob er die Menschen lieben oder verachten soll. Aus diesem ambivalenten Blickwinkel heraus sammelt er nicht nur Trümmerbilder, sondern auch „Glücksgüter“: Eine geschenkte Zigarre. Eine Extraration Brot. Einen schönen Morgen mit viel Sonne.

Porträts und Dialoge sind Borées Stärke. Mit wenigen Strichen macht er die Figuren so leibhaftig, dass man mit ihnen lebt und leidet. Da ist Flitta, die Haushälterin der Vorgänger; da ist Maximiliane, die Tochter, „täglicher Anlass zu Vergnügen und Freude“; oder Frau Busch, Steins Sekretärin, die er aus Trümmern holt und kurzerhand bei sich einquartiert. Oder Kordysant, der das allgemeine Chaos nutzt und als falscher Arzt praktiziert. Borées Prosa kennt viele Färbungen. Da ist der Reportagenton und journalistische Kurzsätze wie „Der Tod würfelte. Die Nerven zitterten.“ Sie stoßen einen erbarmungslos in die Wunde der Stadt. Dann wieder die humane Botschaft und unverstellte Empathie: „All diese Jugend, deren Seide der Krieg sozusagen beiläufig verschliss, zerschnitt mir das Herz.“ Es gibt auch zeittypisches Pathos, wenn das Neue sich ankündigt. „Mir war, als ob wir aus dem Gebirge in die Ebene getreten wären.“

So kommt in diesem emotionalen Wechselbad alles scharf nebeneinander zu stehen: Die Nächte im Keller und die „neuen Wörter“ der Zeit; „Bombenteppiche, Flächenbrände, Nachtschlachtflugzeuge“; die vielen kleinen Gesten einer Nächstenliebe, ohne gegenzurechnen; aber auch der hamsterische Egoismus einer Bevölkerung, die im Durcheinander der Verhältnisse zur ängstlichen, gierigen Herde wird. „Alles lebt von der Nachahmung, vom Gruppenbild“, begründet Stein einmal die fehlende Moral. „Die Menschheit ist nicht schlechter geworden, sondern sie ist nackt geworden.“

Die Fülle an Details lässt an den beklemmenden Roman „Finale Berlin“ von Heinz Rein denken, 1947 erschienen, eine der großen Wiederentdeckungen der vergangenen Jahre. Borées Blick „vom Rand der Dinge, doch nicht außerhalb ihrer Bannmeile“ ist ganz anders im Ton; subjektiver und zurückhaltender, wenn man so will. Gerade das macht „Frühling 45“ aber auch jenseits der Kulisse von Zerstörung und Neuanfang überzeitlich und relevant. Axel von Ernst, der mit Viola Eckelt den Lilienfeld Verlag leitet, konnte überdies Borées Sohn ausfindig machen, der biographische Informationen beisteuerte, die das Marbacher Archiv, wo Borées spärlicher Nachlass liegt, nicht hatte. Pionierarbeit also. Man darf gespannt sein auf wiederzuentdeckende weitere Werke dieses originären Autors.

Karl Friedrich Borée: Frühling 45. Chronik einer Berliner Familie. Roman. Mit einer Nachbemerkung zum Autor. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017. 461 Seiten, 24,90 €.

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG,  Januar 2018