Bernd Brunner: Porträt

Der Mensch und der Mond führen eine merkwürdige Beziehung. Distanziert, muss man wohl sagen. Aber keineswegs ohne Leidenschaft. Was vielleicht daran liegt, dass man so lange so wenig voneinander wusste. Welche Geschichten fantasiebegabte Menschen im Laufe von Jahrhunderten auf die Umlaufbahn schickten, erfährt man in Bernd Brunners Buch „Mond. Die Geschichte einer Faszination“. Und so skurril sich dort diese Beziehung zwischen Himmelskörper und Mensch ausnimmt, so skurril liest sich Brunners eigenes Werkverzeichnis, entstanden aus Fragen, die eher Kinder stellen: Wie kommt das Meer nach Hause? So heißt sein Buch über die Erfindung der Aquarien. Und wer hat eigentlich den Weihnachtsbaum erfunden? Nachzulesen bei Brunner in diesen vorweihnachtlichen Tagen. Wiederum geht es da viel um Projektion, um das, was Menschen damit verbinden. Der Baum als Traum, wo sich verschiedene Dinge verdichten.

Bernd Brunner wollte immer erzählen, nicht dozieren oder aufzählen. Er testete die Grenzen zwischen Essay und Literatur. Jetzt ist er also Sachbuchautor. Was das überhaupt ist? Er bleibt bescheiden, es dauerte ein paar Bücher, bis er das über sich selbst sagte. Der Weg scheint inzwischen klar und seine Talente bestmöglichst genutzt, eine neue Idee sogar schon in Sicht: Das Leben in der Horizontalen. Es wird übers Liegen gehen und wie verschiedene Kulturen das handhaben. Auf solch eine Idee muss man erst mal kommen.

Sein erstes Sachbuch handelte von uns und einem Tier: „Bär und Mensch“. Seltsam, dass Menschen sich manchmal so nennen, gerne dann im Diminutiv: Bärle. Oder Bärchen. Und dann der Teddybär, so einen hatte Brunner selbstverständlich auch. Plötzlich war die Idee da, so wie Ideen einfach da sind, ohne dass man genau weiß, woher sie kommen. Er begeisterte dafür einen Verlag, forschte, sammelte und schrieb die Geschichte dieser Beziehung. Der Bär also, ein Objekt, das er – wie den Mond – schlecht anfassen konnte. Dabei, sagt er heute, bahnte ihm gerade das Anfassen, das Fühlen den Weg. Als Kind Steine, Wurzeln, Früchte sammeln. Dann der Blick durchs Mikroskop ins Innere, das so anders aussah als der Gegenstand von außen. Die filigrane Landkarte aus Seen und Äderchen faszinierte ihn. Ein Naturwissenschaftler ist trotzdem nicht aus ihm geworden. Nach einer Banklehre hat er BWL studiert, aus Vernunftsgründen, und anschließend journalistisch gearbeitet, auch beim Fernsehen, die Wirtschaftsthemen, „Späth am Abend“ zum Beispiel. Dann der Bruch mit der Wirtschaft und noch ein Studium, diesmal Kulturwissenschaft und Amerikanistik, einige Semester davon auch in Seattle. „Nach Amerika. Die Geschichte der deutschen Auswanderung“ schrieb er dort, zunächst auf Englisch. Jetzt drückt er sich lieber wieder in der Muttersprache aus, da ist er spielerischer und literarischer. Unternehmerischen Geist treibt ihn immer noch, beispielsweise bei der Suche nach Verlagen, gerne immer andere. Brunner tritt ein für seine Bücher, die in acht Sprachen übersetzt sind, ganz vorne: Japan. Warum sich gerade Japan für seine Themen interessiert, weiß er selbst nicht recht.

Vielleicht ist es die Aufmachung der Bücher, ihr Bildcharakter: Blättert man sie durch, verweilt man gerne bei filigran gezeichneten Graphiken, die illustrieren, was Brunner gerade erklärt. Im Aquariumsbuch etwa das Bild zweier Akrobatiker, am Uferrand eines Gewässers mit Verrenkung beschäftigt, während unter ihnen ein großer Tintenfisch im Wasser schwimmt, formgleich wie die verbogenen Turnerkörper. Tatsächlich hatten, so lesen wir, im 18. Jahrhundert französische Forscher beim Ringen um Verständnis des rätselhaften Tintenfisch-Körperbaus Parallelen gezogen zwischen den Bewegungen des Meerestiers und der Akrobaten. Und wir tauchen mit Brunner weiter in die Tiefe, wo Lebewesen wohnen, die unseren Vorstellungen von Monstern gar nicht so unähnlich sind. Mit dem aus der Tiefsee ans Tageslicht beförderten Wissen kommen Rätsel, abstruse Noterklärungen und Emotion.

Kulturgeschichte, so zeigt Brunner in allen Büchern, ist immer auch eine Folge von Projektion, dem Bedürfnis entsprungen, das Unerklärbare handlich zu machen. Und es wundert kaum, dass George Fowlers 1813 in seiner Erzählung „A Flight to the Moon“ eine „Wolke, so weiß wie Milch“ beschreibt, die sich bei näherer Betrachtung als weibliche Schönheit entpuppt, mit einer Haut „so weiß wie langsam fallender Schnee“, mit rosafarbenen Wangen und Lippen und Augen so hell wie funkelnde Diamanten. Mit zarten Worten lädt sie den Helden in ihre Welt ein: „Du bist dazu bestimmt, den Mond zu besuchen!“

Der Mond, der Bär, die Wassertiere, der Weihnachtsbaum – alle eignen sich beim Betrachten hervorragend zur Umstülpung der eigenen Innenwelt. Brunners Bücher mit ihren vielen Bildern sind Archive, in dessen Mappen die Träume, die Visionen, die Ängste der Menschheit lagern. Das Internet hat ihm die Spurensuche erleichtert. Privatarchive waren besser auffindbar und nicht mehr nur Zufallsfunde. Als er noch während des Studiums das erste Buch von Wolfgang Schivelbusch las, über die Geschichte der Eisenbahnreise, war das Erkenntnisinteresse festgelegt: Die Geschichte der Eisenbahnreise als Mentalitätsgeschichte. Schivelbusch vermittelte nicht trockenes Wissen, sondern ein Drama. Er erzählte, wie die Eisenbahn in die Menschen regelrecht hineingebrochen ist und ihr ganzes Empfinden von Zeit und Raum veränderte. Solche Zusammenhänge wollte auch Brunner anschaulich machen. Er selbst sieht sich zuständig fürs populäre Sachbuch, ohne akademischen oder theoretischen Anspruch. Gleichwohl verleibt er sich schwierige Texte ein, um danach die Position zu vereinfachen, auch das eine Herausforderung. Er erzählt, was ein Mondregenbogen ist, warum wir den bleichen Erdbegleiter fälschlich als weiß erleben und wie die katholische Kirche und Maria sich zu ihm verhalten. Er fragt, ob er ein Geschlecht hat und schaut nach, wer ihn alles bedichtet hat. Bei aller Kulturgeschichte vergisst Brunner nicht die technische Seite, die Apparaturen. Seine Bücher führen Kultur- und Naturwissenschaften zusammen. Von dieser Begegnung zu erzählen wie in einem „Kinderbuch für Erwachsene“, ohne verniedlichende Sprache, ist Brunners Ideal.

Vielleicht ist das die Erklärung dafür, warum seine Bücher bei aller Seriosität und jenseits ihrer Vielfalt merkbar an zwei archaischen Kindheitspfeilern entlang geschrieben sind: Bedrohlichem und Visionärem. So auch in Bernd Brunners aktuellem Buch über den Mond. Licht und Schatten strukturieren es, die immer heller alle Mondwinkel ausleuchtende Geschichte der Wissenschaft auf der einen Seite, und der Mond unserer dunklen Gedankenwelt auf der anderen Seite. Brunner zeigt den Mond als Studienobjekt wie Projektionsfläche. Realität und Fiktion, so erweist sich, sind dabei keineswegs komplett voneinander getrennt. Im Gegenteil: Oft sind sie, und das ist vielleicht das Erstaunlichste an dieser Übersicht wie an den anderen, eng miteinander verzahnt.

Jetzt ist Bernd Brunner erst einmal spontan umgezogen, von Berlin nach Istanbul, das ihn inspiriert. Und wo er, trotz seines Buches über die Erfindung des Weihnachtsbaums, nach wie vor keinen eigenen Weihnachtsbaum schmücken wird. Eine Lichterkette im Fenster genügte ihm bislang. Man darf gespannt sein, welche Themen sie künftig noch alles beleuchtet – jenseits der aktuell entstehenden Geschichte über das Leben in der Horizontalen.

Von Bernd Brunner erschienen:

  • Mond. Die Geschichte einer Faszination. Antje Kunstmann Verlag, München 2011. 320 Seiten, 19,90 €.
  • Die Erfindung des Weihnachtsbaums. Insel Verlag, Frankfurt a.M. 2011. 90 Seiten, 12,90 €.
  • Nach Amerika. Die Geschichte der deutschen Auswanderung. C.H. Beck Verlag, München 2009. 253 Seiten, 12,95 €.
  • Wie das Meer nach Hause kam. Die Erfindung des Aquariums. Wagenbach Verlag, Berlin 2011 (Original Transit Verlag, 2003). 138 Seiten, 10,90 €.
  • Bär und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010. 188 Seiten, 29,90 €.

erschienen auf  ZEIT ONLINE, 2011