Thema Lieblings-Romanfigur: Bastian Balthasar Bux

Lesen kann ein durch und durch körperlich ergreifender Vorgang sein. Das erleben wir an keiner Romanfigur so deutlich wie an Bastian Balthasar Bux, dem „kleinen, dicken“ Jungen, der in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ eben diese einem Buchhändler entwendet. Versteckt auf dem Speicher seiner Schule, versinkt Bastian buchstäblich in der Welt, von der er dann liest: Phantásien, ein Land in tiefster Depression, bedroht vom Nichts, das Körperteile und ganze Wesen verschluckt, weil die Menschen das Fantasieren verlernt haben. Bastian schluchzt, als Atréjus Pferd in den Sümpfen der Traurigkeit versinkt. Und er stößt einen Schreckensschrei aus, als Atréju mit der Riesenspinne Ygramul um das Leben des Glücksdrachen ringt – einen Schrei, den man bis in die Schlucht hört, von der Bastian doch nur liest. Kann das sein? Ganz allmählich verwandelt sich Bastian vom passiven Rezipienten zum überaktiv Agierenden, und das nicht ganz unfreiwillig: Seine Mutter ist tot, der Vater unter der Trauer wie eingefroren, die Schule ein Hort von Quälern. Flucht ist Bastians innigster Wunsch. Da trifft es sich gut, dass er in die Geschichte hineingerufen wird, um Phantásien zu retten. Auf sein Geheiß wächst erst Perélin, der Wald, dann die Wüste Goab. Ab hier wird er zunehmend unangenehm, ein niemals sattes Kind mit Riesenwünschen, dessen Größenwahn niemand stutzt. Die Sympathieträger des Romans, Atréju und der Glücksdrache Fuchur, verjagt er. Wie kann er nur! Er kann – weil mit jedem Wunsch seine Erinnerung an das alte Leben schrumpft. Fast wäre er in Phantásien geblieben, als irrer Geisteskranker ohne Entwicklung. Doch es gibt während seines Austobens eine Eigenschaft, die uns mitleiden lässt und die Atréju sofort erkennt – das erste Mal, als er Bastian als Spiegelbild sieht, und all die anderen Male, wenn er selbstlos zur Stelle ist, um dem Gleichaltrigen zu helfen: „Die Augen des Jungen waren groß und sahen sehr traurig aus.“ Bastian ist im gleichen Maß normal wie Atréju übernatürlich gut ist. Fast vergisst man, dass Bastian selbst nur eine Romanfigur ist. Michael Ende prüft ihn bis aufs Mark. Bastian muss Vater und Mutter vergessen, schließlich sogar seinen Namen. Nackt und bloß taucht er in die Wasser des Lebens, nicht wissend, ob es ihn selbst in Wirklichkeit gibt. Seine Versenkung ins Buch ist gefährlich, seine Rückkehr in das alte Leben unsäglich lange ungewiss. Aber dank „Änderhaus“ (wie außerordentlich praktisch!) und vieler großmutiger Wissender lernt er beim Grenzübertritt „Herzensfrohheit“. „Er war geduldig und still geworden.“ Zeit, Phantásien zu verlassen.

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG,   2009