Chaim Be’er: Bebelplatz

Es ist Nacht, als ein israelischer Schriftsteller, während einer Konferenz zu Gast in Berlin, auf den Bebelplatz, vormals Opernplatz tritt. Zu seinen Füßen betrachtet er die in den Boden vom Künstler Micha Ullman eingelassene Glasplatte, darunter den leuchtend weißen Raum mit leeren Regalen, der an die Bücherverbrennung mahnt. Hier, sagt sein Begleiter Schlomo Rappoport, Antiquar in Berlin, tat am 10. Mai 1933 die Erde ihren Mund auf. Hier, zu Füßen der Leute, „und sie sahen es und schrien nicht“. Wir sind schon mitten drin im Roman „Bebelplatz“, der viele Geschichten erzählt, von Auswanderern, einer deutschen Philologin und einem israelischen Immobilienhai, vom Sohn eines hohen Militärs der Nazizeit, von manischen Büchersammlern und Instituten, die sich um einen sicheren Ort für jüdische Schriften sorgen. Und so, wie das Studium des Talmud Austausch und quirliges Gespräch entfachen soll, überzeugt auch dieser Roman weniger durch einen zwingenden Handlungverlauf, vielmehr durch den melodiösen Kontrapunkt, der sich aus Rede und Gegenrede der Figuren entwickelt. Man fragt, bohrt nach, spielt mit Wissen, kontert scharf, freut sich auch mal heimlich an der Unbelesenheit des Anderen oder erzählt enthusiastisch. Das schafft authentische, charismatische Figuren mit Stärken und Schwächen. Und so folgt man als Leser gern dieser gewandten Rhetorik. Unvermutet entdeckt man immer wieder neue Lebenlinien, die sich quer über Kontinente spannen und geheime Verbindungen freilegen; oder man verweilt bei einer kleinen Geschichte, die plötzlich das Gewicht eines Gleichnisses erhält, das die Augen für Namenloses öffnet.

Chaim Be’er heißt der hier erzählende Schriftsteller im Roman, so wie der Autor selbst, der, 1945 geboren, in einer orthodoxen Familie in Jerusalem aufwuchs. Ein Aufenthalt im Literarischen Colloquium führte ihn nach Berlin in die Villa am Wannsee. Hier lässt er nun Gelehrte aus aller Welt in einer konspirativen Runde aufeinandertreffen. Alle verbindet die Leidenschaft fürs Buch. Schlomo Rappoports Leben etwa ist schicksalsträchtig damit verhaftet. Während er und die Mutter der Nazigreuel entkam, blieb sein Vater – wegen der Bücher. Mit einem der letzten Transporte von Berlin-Grunewald hat man ihn nach Bergen-Belsen deportiert. Von der Bibliothek blieb nichts. Bis heute sucht Rappoport nach einem Buch seines Vaters und nach solchen Büchern, die gar nicht erst in Umlauf gelangten, weil sie noch in der Druckerei verbrannten. Jetzt, auf dem Bebelplatz, während der Schnee schräg fällt und der Sturm immer stärker wird, während der Antiquar Untergangsstimmung verbreitet und vom allesverschlingenden Charakter der Erde spricht, treffen die Erinnerungen aufeinander und bilden einen weiteren gespenstischen Kontrapunkt. Berlin als Ort dieser Begegnungen ist ebenso wichtig für Struktur und Wirkung dieses Romans wie das Spiel aus Rede, Gegenrede und Schweigen. Insbesondere der Wannsee. „Auf der einen Seite des Sees verschluckte die Dunkelheit das Gästehaus der SS, und rechts davon leuchteten einige Lichter der Halbinsel Schwanenwerder, auf der in ihren glücklichen Jahren Vater Joseph Goebbels und Frau Magda mit ihren sechs süßen Kindern gewohnt hatten.“

Die Leere und „der Abgrund zwischen den verschiedenen Ebenen der Existenz“ blitzen wie in tausendfach angeordneten Spiegeln auf. Be’er arbeitet damit metaphorisch, theologisch, biografisch. Er verbindet dabei die Leere mit Fülle, die negative Assoziation mit der positiven, die in dieser verwirrenden Zweideutigkeit noch deutlicher im Originaltitel anklingt: „lifnej ha-makom“ (2007) heißt „Vor dem Platz“. „Platz“, erläuterte der Autor in einem Interview, verweise im Hebräischen auch auf Gott. Denn in der hellenistischen Zeit ließ man einen Buchstaben aus, wenn man Gottes Namen schrieb. Man hielt einen Platz frei. Am Bebelplatz mit seiner unterirdischen leeren Bibliothek fragt Schlomo Rappoport: Wo war Gott während des Holocaust?

Schmerz und Hoffnung, gespeist aus der Geschichte der europäischen Juden bis zur Situation im heutigen Israel, sind Leitströme dieser vielschichtigen Prosa. Alle Romanfiguren begegnen der Angst vor dem Verlust jüdischer Kultur auf unterschiedliche Weise. Chaim Be’er etwa arbeitet an einem Buch über einen Mann, der eine Bibliothek außerhalb Israels errichten will – eine „Sicherheitskopie“ für den Fall, dass der Staat Israel untergeht. Das Romanprojekt steckt allerdings fest – wegen der „plötzlichen Nähe zur Wirklichkeit“ in Berlin, wo die böse Ahnung einer bücherlosen Welt ein reales Vorspiel hat. Und so sammelt er in den vielen Begegnungen Mosaiksteine, statt einem glatten Erzählplan zu folgen. Der alte Roman geht im Neuen auf, mit Fragen und Reflexionen, die sich um eine kleine, angedeutete Liebelei legen und viele Rätsel lassen. Gerade aber an den ästhetischen Bruchkanten, an den anspruchsvolleren Passagen von „Bebelplatz“, verdichtet sich das hier angehäufte Material zum zentralen Thema, das die Romanteile verstrebt und trägt: Wie überdauert der Geist, das Wort, eine ganze Kultur? „Bebelplatz“ erzählt schließlich auch von der Dringlichkeit, Kultur nicht nur zu bieten, sondern zu empfangen – was im Falle Chaim Be’ers, dessen Werk mit historischen wie jüdisch-religiösen Bezügen durchzogen ist, eine besondere Herausforderung ist. Die Übersetzerin Anne Birkenhauer, die unter anderen auch David Grossmans Romane sensibel aus dem Hebräischen übertrug, ist sich dieser Schwierigkeit bewusst und erläutert in einem Nachwort ihre genau abgewägten Entscheidungen. In Absprache mit dem Autor hat sie an einigen Stellen unauffällig Überbrückungshilfe geleistet, an anderen Stellen um explizitere Formulierungen gebeten, damit Anspielungen auf Bibelzitate und andere Assoziationen verstanden werden. So ist diese deutsche Ausgabe tatsächlich neben dem Original eine weitere Version, für die man dankbar sein kann, weil sie die Komplexität des Themas auf der sprachlichen Ebene begleitet.

Chaim Be’er: Bebelplatz. Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Berlin Verlag, Berlin 2010. 319 Seiten, 24,90 €.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2010