Paula Fox: Woraus wir gemacht sind, ist bloß geliehen

Ihre Erzählungen sind Forschungsreisen in den Kontinent menschlicher Schwächen, ihre Biographie ist ein ergreifendes Dokument von Verlust und Tapferkeit: Zwei neue Bücher spiegeln die Größe der amerikanischen Autorin Paula Fox.
Ein Mann erhält nach Jahren Kontaktstille einen Brief von einem ehemaligen Schulfreund. Er antwortet ihm. Und weil sich oft erst beim Briefeschreiben ein Abgrund öffnet, schildert er dem Freund nicht einfach nur seinen Tag, sondern auch die quälende Stille nach der Arbeit. „Dann lausche ich meinen eigenen kleinen Geräuschen. Ich spiele mit der Kappe meines Füllers, schließe eine Schublade, lasse eine Büroklammer fallen und hebe sie nicht wieder auf.“ Schon liegt er da, der unscheinbare Gegenstand, in dem sich die Melancholie dieser Prosa verfängt. Erst später fällt sie ei- nem wieder ein, diese auf den Boden gefallene Büroklammer.
Vergessen, verlassen, versetzt zu wer- den ist eine Grunderfahrung im Leben der heute achtundachtzigjährigen amerikanischen Schriftstellerin Paula Fox. Den ersten scharfen Schnitt machen die El- tern schon wenige Tage nach der Geburt. Sie geben ihre Tochter in ein Heim für Findelkinder. Die Mutter ist zwanzig. Der achtundzwanzig Jahre alte Vater, ein Cousin des Schauspielers Douglas Fairbanks, schreibt mit wenig Erfolg Drehbücher und Theaterstücke. Aus dem Nichts tauchen sie immer mal wieder bei der Tochter auf und verschwinden jäh; Lebemenschen mit wenig Geld, sprunghaft, angezogen von Hollywood und der Künstlerszene New Yorks. Mit sieben wohnt Paula mit der spanischen Großmutter in „schuh- schachtelgroßen“ Wohnungen. Als sie elf ist, holen die Eltern Paula zu sich, reisen aber bald wieder ab und lassen sie bei der Haushälterin. Mit fünfzehn – das Paar ist inzwischen getrennt – quartiert sie der Va- ter allein in einer Wohnung in New York ein. Es folgen Internat, wechselnde Orte und Bezugspersonen. Der Vater bleibt ihr als Regelbrecher mit Charme im Gedächtnis, die Mutter als harsch. Die Ablehnung, unterbrochen von halbherzigen Ver- suchen, die Tochter in den chaotischen Alltag zu integrieren, ist das offene Rätsel des Lebens der Paula Fox. Die Mutter nennt keinen Grund – außer diesen: Sie habe schon vorher öfters abgetrieben, die- se Schwangerschaft aber zu spät bemerkt. Sätze wie aus Albträumen, deren Inhalt man nicht klar zu sehen wagt.
Kalifornien, Kuba, Florida, Montréal sind nur einige Stationen dieser Odyssee. Beziehungen, die in Brüche gehen. Und eine frühe Schwangerschaft – Paula Fox gibt als sehr junge Mutter selbst ihre älteste Tochter zur Adoption frei. Es gibt aller- dings eine stete Zeit in diesem unruhigen Leben, ein Boden unter den Füßen, der für einige Jahre betretbar scheint: „Onkel Elwood“. Der Geistliche nimmt Paula mit fünf Monaten bei sich auf, liest ihr vor, gibt ihr Halt und Sprache – das „in allem Ernst gesprochene Wort“. Mit ihm lässt Paula Fox auch ihre Geschichten einer Jutentielle Schwere, die Paula Fox ihnen ein- gibt, wenn sie im richtigen Moment schließt, eine Büroklammer fallen lässt oder Dialoge und Gesten so arrangiert, dass man die große Störung hinter den vielen kleinen irritierenden Alltagshandlungen aufbrechen sieht – „das Sichtbare und das Unsichtbare“, wie Bernadette Conrad in ihrem Nachwort schreibt.
Die besten Erzählungen aber betonen den Rang dieser großen amerikanischen Autorin und ihres Werks. Sie verwandeln sich die Doppelbödigkeit eines Lebens an, das geprägt ist durch die Erwartung von Unsicherheit, durch die Erfahrung einer Logik wie in „Alice im Wunderland“: Wenn etwas fällt oder verschwindet, kann es an einem anderen Ort wiederauftauchen oder auch an zwei Orten zugleich sein – durch Erinnerungen, Phantasie, Bücher. Von dieser ver- wirrenden Sehnsucht und der Aufhebung der Schwerkraft handelt das Werk.
Schon in diesem Buch, 2003 auf Deutsch erschienen, war einem Paula Fox’ Lebensgeschichte nahe gerückt, weshalb eine reine Biographie wie ein Anhängsel gewirkt hätte. Die Literaturkritikerin Bernadette Conrad geht einen anderen Weg. Sie fügt nach vielen Besuchen und Reisen zu den Wohnorten eigene Facetten hinzu: „Die vielen Leben der Paula Fox“ ist das Ergebnis einer sehr persönlichen Spuren- suche und selbst poetisch. Keine trockene Fleißarbeit, der es um möglichst viele De- tails geht. 2005 begegnete sie erstmals dieser Frau mit schnellem Schritt, „leicht und entschlossen, immer irgendwohin unterwegs“. Sie nimmt die abgerissenen Lebensfäden vorsichtig in die Hand, zwirbelt sie zusammen und wieder auseinander, fragt und hinterfragt. Sie erwägt Erklärungen an jenen Stellen, die Paula Fox klug be- schwiegen oder gewandt fiktionalisiert hat. Conrad will gar nicht erst den Ein- druck erwecken, dies alles gehe sie nur et- was als ordnende Biographin an.
Die Einlassung ist ihr Gebot. Das ist natürlich in der Folge einer wilden Form aus Reportage, Zitat, Interpretation, Fakten, Selbstbildmontage heikel und nicht immer frei von Übermut und Grenzüberschreitung. Lässt man sich aber auf ihre Bedingungen ein, auf den Mut zum distanzge- schwächten, gleichwohl respektvollen Subtext zu diesen „vielen Leben“, ergibt sich eine Art Ordnung zweiten Grades: Die har- ten, emotionalen Risse dominieren und spiegeln sich in Gesprächen mit Paula Fox’ Kindern oder dem Autor Jonathan Franzen, der sich für ihr Werk einsetzte.
Sie werden aber auch an die Zeit angeschlossen. Mobilität und Amerika als Einwanderungsland etwa dienen Bernadette Conrad als Begriffskulisse zur Beschrei- bung allgemeiner Zustände, etwa der Weggabepraxis, die lange vor Paulas Ge- burt begann, als Findelkinder in New York noch „mit Sünde infiziert“ waren. Anders als elternlose Waisen, recherchiert sie, galten sie weniger als Opfer, vielmehr als „von Gott und der Welt ver- lassen“. Conrad geht dieser Scham nach und ergründet, was „die scharfe Klinge des Lebens“ zu tun hat mit der „scharfen Klinge, mit der diese Autorin ihr Material Sprache bearbeitet“.
Im Alter von vierzig Jahren begann Pau- la Fox zu schreiben. Sechs Romane, zwei autobiographische Bücher, dreiundzwan- zig Kinderbücher liegen inzwischen vor – jüngst erschien ein neuer Band mit Erzählungen und Vorträgen: „Die Zigarette und andere Stories“ enthält Geschichten, in denen die scharfen biographischen Schnitte einen Abdruck hinterlassen ha- ben. Die Angst vor Verlust sitzt den Figuren im Nacken. Und wenn sie doch ein- mal nach langen Schweigezeiten vorsichtig Kontakt aufnehmen, passiert das oft ohne Sinn für die richtige Dosierung der Liebesgabe. Entweder verschenken sie sich ganz oder schrecken unangemessen zurück, wenn man sie zu lange berührt. Das richtige Maß für Nähe zu finden erfordert einige Energie. Keineswegs – und das ist das Besondere an diesen Geschichten – ergreift diese Anstrengung die Sprache. Vielmehr scheint es so, als transformiere das Erzählen die Beziehungsnot der verwundeten Figuren in zarte Verletzlichkeit.
Tatsächlich machen die meisten sogar vorm Abgrund halt. Sie greifen zum Telefon, um doch noch jemanden anzurufen. Sie unternehmen tapfer lange Fahrten zum lange vermiedenen Vater, ohne Antworten zu finden. Oder sie warten nach Beerdigungen, bis sie in dunklen Räumen sitzen, um endlich schreien zu können, doch immer allein. Nicht alle Erzählungen aus den letzten knapp 45 Jahren in diesem vermischten Band haben die existentielle Schwere, die Paula Fox ihnen ein- gibt, wenn sie im richtigen Moment schließt, eine Büroklammer fallen lässt oder Dialoge und Gesten so arrangiert, dass man die große Störung hinter den vielen kleinen irritierenden Alltagshandlungen aufbrechen sieht – „das Sichtbare und das Unsichtbare“, wie Bernadette Conrad in ihrem Nachwort schreibt.
Die besten Erzählungen aber betonen den Rang dieser großen amerikanischen Autorin und ihres Werks. Sie verwandeln sich die Doppelbödigkeit eines Lebens an, das geprägt ist durch die Erwartung von Unsicherheit, durch die Erfahrung einer Logik wie in „Alice im Wunderland“: Wenn etwas fällt oder ver- schwindet, kann es an einem anderen Ort wiederauftauchen oder auch an zwei Orten zugleich sein – durch Erinnerungen, Phantasie, Bücher. Von dieser ver- wirrenden Sehnsucht und der Aufhebung der Schwerkraft handelt das Werk der Paula Fox.

Paula Fox: „Die Zigarette und andere Stories“.
Aus dem Englischen von Karen Nölle und Hans-Ulrich Möhring. C. H. Beck Verlag, München 2011,
255 S., geb., 19,95 €

erschienen in der  FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 3. Juni 2011