David Grossman: Der Rufer in der Wüste

Der Rufer in der Wüste

Unterwegs zu den Orten der eigenen Angst: Der israelische Schriftsteller David Grossman trotzt mit seinem jüngsten Roman den Schrecken des Nahostkonflikts. Eine Begegnung mit dem diesjährigen Friedenspreisträger.

Stimmen eröffnen David Grossmans Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“. Unsichere Fragen, vereinzelte Rufe im Dunkeln, noch bevor man einander sieht. Die Stimme, sagt David Grossman bei unserer Begegnung, die Stimme sei etwas Intimes, eine Markierung. Er spricht präzise, nimmt sich Zeit, um eine Frage genau zu beantworten. Ihn selbst haben Stimmen geprägt. David Grossman, 1954 geboren, war neun, als der einzige Radiosender des jungen Staates Israel einen Wettbewerb ausrief. Es ging um Erzählungen Scholem Alejchems, und die kannte er wie niemand. Sein Vater hatte ihm das Buch zum Lesen gegeben. Es schien den Jungen durch einen Tunnel zu führen, direkt in das osteuropäische Schtetl Galiziens, wo sein Vater aufgewachsen war, bevor er 1936 nach Palästina einwanderte.

Bedürfnis nach Dialog

Was er von seinem Vater gelernt habe? „Mensch“ zu sein, sagt er und lächelt. Aber er sei, wiegt er ab, eine perfekte Kombination aus beiden – von der Mutter habe er das Klare; sie liebt scharfe Bemerkungen. Aufzufallen sah der Familienkodex aber nicht vor. Und so war es, als damals der Brief des Radiosenders eintraf, für die erschrockenen Eltern, „als hätten sie einen Brief von Ben Gurion erhalten“ – kurzum: Ihr Sohn wurde tatsächlich Radiosprecher. Später arbeitete er als Redakteur und Hörspielautor. Und als man ihm einmal in einem Sprechkurs den Trick beibringen wollte, er solle sich eine Busladung Publikum vorstellen, zu denen er rede, entschied er: „Ich stellte mir lieber den einen Menschen in einer Wüste vor, zu dem ich spreche, und nur zu ihm!“

Man spürt das Dringliche, das Ehrliche, die Würde dieses intimen Raums in allen seinen Romanen und selbst in den politischen Essays. Doch Grossman ist dabei kein einsamer Rufer. Schon immer habe er „ein großes Bedürfnis nach Dialog“ gehabt, überzeugt davon, dass jedes Gespräch etwas mit uns macht. Seine Stimme hat in Israel Gewicht. David Grossman geht es um viel. Das jüdische Leben im Schtetl, von dem er als Kind dachte, es existiere immer noch und parallel zu seinem, war ihm lange wie ein Märchen. Es brach bei einer der obligatorischen Holocaust-Gedenkfeiern in sich zusammen. Mit einem Mal wurde dem Neunjährigen klar: „Diese sechs Millionen, diese Ermordeten, diese Opfer, diese ,Märtyrer der Shoa‘, wie man sie auch nannte – das waren meine Leute. Das waren Mottel, Tewje, Shimele, Soroker, Chavale, Stemphanio, Lili und Shimek.“

Wanderung durch Israel

Das Trauma der Shoa bebt in Grossmans Werken nach, etwa in dem Roman „Stichwort: Liebe“. Sein Opus magnum aus dem vergangenen Herbst „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ erzählt dagegen von der Situation heute; von Ora, einer Mutter, die ihren Sohn Ofer in den Krieg begleitet und dann beschließt, vor der möglichen Todesnachricht zu fliehen. Sie will nicht untätig zu Hause sitzen und warten. So wandert sie lieber mit ihrer unendlichen Angst quer durch Israel. Sie wird dabei begleitet von Avram, ihrem ehemaligen Geliebten, den nichts mehr hält – die Schrecken der Folter in ägyptischer Gefangenschaft im Jom-Kippur-Krieg haben ihn kühl gemacht. Ora aber gelingt es während dieser langen Wanderung, Avrams Kruste allmählich aufzubrechen. Sie erzählt ihm vom Leben, von ihrem Sohn Ofer, von der Ernsthaftigkeit bei den ersten Schritten, als er noch klein war. Und während sie Avram durch Reden ins Leben zurückholt, füllt sie, wie sie hofft, auch ihren Sohn Ofer mit Leben, irgendwo dort draußen im Krieg, wohin sie ihm nicht folgen kann.

„Sie will einen Zaun um ihn bilden mit all diesen Geschichten“, sagt David Grossman. Er begann den Roman 2003, kurz bevor sein älterer Sohn Jonathan seinen Militärdienst beendete und sein jüngerer Sohn Uri einberufen wurde. Mit ihm hat er viel über den Roman und die Figuren gesprochen. „Was hast du ihnen diese Woche wieder angetan?“, fragte der Sohn oft. Uri starb am 12. August 2006 in den letzten Tagen des zweiten Libanonkrieges beim Versuch, die Besatzung eines anderen getroffenen Panzers zu retten. Mit ihm starben Benaja Rein, Adam Goren und Alex Bonimovitsch. „Ich dachte, ich könnte ihn begleiten, dorthin, wo er sein würde.“

Schreiben, um nicht Opfer zu sein

Grossmans Roman beschreibt eine Angst, die Ora, die Hauptfigur, mit vielen Eltern des Landes teilt. Einmal gräbt Ora wie besessen ein Loch in die Erde, über die sie wandert. Sie weint ihre Tränen hinein. „Was mache ich, dachte sie, ich erzähle der Erde von ihm, warum erzähle ich ihr von ihm, und sie bekam Angst, vielleicht bereite ich sie auf ihn vor, damit sie weiß, wie sie sich um ihn kümmern muss.“ David Grossman betont oft, er schreibe, um nicht Opfer zu sein, um etwas benennen zu können. Seine Figuren sind Fluchtfiguren, doch keineswegs Eskapisten: Sie wachsen, während sie rennen, reden, fantasieren. Und sie dringen dabei manchmal in Bereiche vor, die vorher unausprechlich erschienen.

In den sechziger Jahren, als David Grossman ein Kind in Jerusalem war, gab es auch für ihn Fluchtbücher. Solche, in denen die israelische Fußballmannschaft über die deutsche gewann; oder Enid Blytons „Fünf Freunde“. „Am meisten lasen wir Bücher, die nicht von uns handelten, sondern von anderen Menschen an anderen Orten, friedlichen Orten. Wir wollten wirklich in einem englischen Garten leben! Wir nannten uns George und John, weil unsere eigenen Namen so trivial und banal für uns klangen.“

Der Mensch hinter der Rolle

Heute sucht er die Plätze auf, die ihm Angst machen. Er will das Gespräch, gerade mit Menschen, die, weil sie plötzlich zu Repräsentanten ihrer Kultur werden, als Gegner gelten. Grossman sucht den Menschen hinter seiner Rolle. Vielleicht auch: die Stimme, den Klang hinter dem vorschnell gefertigten Bild. Dies ist sein Weg zu einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts, der beide Seiten berücksichtigt.

Man fühlt bei ihm selbst und in seinen Werken diesen Resonanzraum, der so viele Nuancen kennt. Und wenn er seine beiden Hauptfiguren Ora und Avram über die Krater dieses verwundeten Landes schickt, mit Rucksack und Reden und Beißen und Schweigen und Lieben, mit allem, was menschliche Beziehung ausmacht, schwingt immer beides mit: eine vollkommene Klarheit über das Leben in Israel, über das Glück, wenn man dort vielleicht zwanzig gute Jahre hatte, in denen nichts passierte. Und eine Klage, die ihre Wurzeln hat und die Sehnsucht, endlich verebben zu dürfen. „Jemand schrieb mir, Ora sei wie eine Muse des Lebens“, erzählt David Grossman. Und tatsächlich ist sie die treibende Kraft dieses Romans. Eine Lichtfigur, aller Schrecken zum Trotz.

Berührende Polyphonie

David Grossman wanderte selbst 2003 diesen hier beschriebenen Israel Trail, sogar fünfhundert Kilometer, weiter als seine Figuren. Meistens alleine, manchmal mit Michal, seiner Frau, an speziellen Plätzen, die sie liebt. Der Weg schlängelt sich an historischen Stätten entlang, durch Johannisbrotbäume und Eichen, „in den Fußstapfen der Tannaiten und der Amoräer“, in glühender Hitze, vorbei an Kühen mit prallen Eutern – aber immer auch durch unsicheres Gelände, durch israelisch-arabische Gebiete. Man warnte ihn damals. Ein israelischer Soldat war in dieser Zeit getötet worden.

Aber nicht die Menschen, höchstens Tiere, Hunde und Wildschweine, waren bedrohlich – „alleine macht man kaum Geräusche, und so stößt man plötzlich auf sie“. Die Menschen hingegen, die Grossman traf und die ihn zum Teil erkannten, waren nett und offen. Manche ihrer Erzählungen hat er – mit ihrer Erlaubnis – in seinen Roman sogar eingearbeitet. Ihre Stimmen sind Teil dieser berührenden Polyphonie.

Normalerweise, sagt David Grossman am Ende nachdenklich, begleite er ein Buch, das im Ausland erscheine, nicht so intensiv. Diesmal, mit dem Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“, sei das anders. Vielleicht so, wie man ein Kind am ersten Tag zum Kindergarten begleitet und hofft, dass es gut behandelt wird. Jetzt erhält David Grossman den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2010.

 

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, Juni, 201o