Ulla Hahn: Aufbruch

Hilla Palm – das ist, obwohl gern vermutet, nicht etwa eine Anspielung auf Hildegard Domin, die Lyrikerin und eine verheiratete Palm. „Dat“ Hilla und auch der Nachname Palm sind schlicht beliebte Kölscher Name. So beliebt, dass Ulla Hahn, selbst bekanntlich auch Lyrikerin, in ihrer autobiografisch grundierten Prosa ihre Protagonistin eben Hilla Palm nannte. Das erzählt sie jedenfalls gerne in Interviews. Die Erkundung ihrer Wurzeln schon im ersten, bereits verfilmten Roman „Das verborgene Wort“ (2001) verband sich dabei untrennbar mit der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in den fünfziger Jahren. Auch die Fortsetzung „Der Aufbruch“ transportiert nicht nur die Sicht einer Heranwachsenden, die durchs Wort, durch die Begeisterung für Literatur zum Leben findet. Diese Prosa, nun bei den 60er Jahren angekommen, atmet durch die Zeit, in der sie spielt; durch den Einzug des Quelle-Katalogs in die Provinz; das Aufklappen des Fernsehers in der Küche, dem einzig beheizten Raum im Haus; durch die vielen, oft unreflektierten Rituale, die Ulla Hahn in beiden Romanen zusammenträgt. Volksnah und drastisch erzählt sie vom Aufwachsen Hillas im katholischen Rheinland. Der Großvater war diesem Mädchen stets eine Lichtgestalt. Sein „lommer jonn“, lass uns gehen, zieht sich wie ein Lockruf durchs unterkühlte Erziehungslabyrinth der Eltern. Man meint diesen Ruf auch im zweiten Teil noch zu vernehmen. Hilla ist inzwischen Oberstufenschülerin kurz vor dem Abschluss, ihr Ziel nach wie vor die Befreiung aus einer Familie, die Bildung nicht vorsieht.

Das hat seinen Preis, schleichen sich doch Inbrunst und Sehnsucht dieser strebenden Figur Hilla mitunter etwas mustergültig zwischen die Zeilen. Doch man kommt nicht umhin, die planvolle Hand hinter dieser Ich-Perspektive zu bewundern. „Bööscher? Nä, hatte der Vater gesagt. Aber ich bekam eine Zahnspange“, heißt es schon lapidar im ersten Band. Auch jetzt gilt Ulla Hahns Liebe dem Aufeinanderprall unterschiedlicher Welten. Das Arbeitermädchen, das beim Lesen der Philosophen einen „kalten Jubel im Kopf“ verspürt, erhält unverhofft Türöffner – für das Studium in Köln und einen Platz im Wohnheim; nicht nur finanzielle Helfer, auch solche, die sie bestärken, das zu tun, was sie will. Früh bewirbt sich ein wohlhabender „Campari-Mann“ um die junge Dame, der ihre Wissbegier schätzt und ernsthaft anbietet: „Ich hol dich da raus“. Doch Hillas Credo heißt „Leistung statt Almosen“. Später sind es andere Lichtgestalten, zwischen die sich allerdings auch Traumatisierendes schiebt. Es scheint sogar, der Roman ebenso wie die Hartnäckigkeit der Figur seien um dieses Ereignis, eine Vergewaltigung, herumgeschrieben. Alles erhält dadurch einen anderen Ausdruck.

Wie hier überhaupt Tonarten einander abwechseln, wie hier die Lesenden umschmeichelt werden, wie hinter vorgehaltener Hand Unsagbares mitgeteilt oder prall vom Alltag gesprochen wird, interessiert und überzeugt. Und es fehlt auch diesmal nicht an jener poetischen Kraft, die Ulla Hahn immer wieder mit jenen sogenannten „Buchsteinen“ beschwört, die auch graphisch die einzelnen Abschnitte voneinander scheiden: Fund- und Sammelstücke des Großvaters, der die Kinder anhielt, Geschichten in die von der Natur imprägnierten Schnörkel hineinzulesen. Diese Gabe, die Wirklichkeit zu vergrößern, verlässt auch die Erzählerin nie. Bisweilen schüttet sie ihre Früchte etwas üppig aus. Wer das nicht scheut, fühlt sich in eine andere Zeit zurückversetzt. Man trägt auch an warmen Tagen lange Wollstrümpfe. Es gibt Tanzstunden, gebauschte Strickjäckchen, goldene Ketten mit Kreuz. Und jetzt, in den 60ern, eben die neue Welt, die durch den Fernseher eindringt, aufgespannt zwischen Kriegsverbrecherprozessen und Grzimek. Dialekt, Latein, Sprachspiele halten den erzählerischen Ton frisch. Darunter blitzen die Nöte derer auf, die im ersten Band vom Kind noch unverstanden blieben: die der Eltern. Hilla beginnt zu verstehen. Und so wird dieser zweite Roman tatsächlich im doppelten Sinn zum „Aufbruch“: in freies, unabhängiges Denken; aber auch zum Aufbruch der verkrusteten emotionalen Häute einer ganzen Generation. Ein dritter Band ist in Arbeit. Schön, wenn dieser Weg weiterverfolgt wird.

 

Ulla Hahn: Aufbruch. Roman. Deutsche Verlagsanstalt, München 2009, 592 Seiten, 24,95 €.

Erschienen in der Stuttgarter Zeitung, 2010