Alfred Kubin: 100 Jahre „Die andere Seite“

Es gibt einen Tag im Leben des Zeichners Alfred Kubin, da er nicht mehr leben mochte. Gewillt, sich am Grab der früh gestorbenen Mutter umzubringen, fährt er mit dem Zug von Klagenfurt nach Zell am See, wo er aufgewachsen war. Der Zug bleibt wegen Hochwassers stecken, und aus einem Tag werden gedehnte zwei, was den 19-Jährigen nur um so entschlossener macht. Mit der Nadel hat er sich nach einem anatomischen Bilde einen Ritz in die Schläfe gemacht, um das Gehirn nicht zu verfehlen. Doch die eingerostete alte Waffe versagt, und zum zweiten Abdrücken fehlt ihm „die seelische Kraft“. So beschreibt es Kubin Jahre später in einer Selbstbiographie. Möglicherweise ist ihm aus der Distanz diese Szene wildromantischer erschienen als sie in Wirklichkeit war. Als Erzählung vereint sie auf irritierende Weise Pose und Plan mit panischer Lebensangst. Wer war dieser Mann, der auf einem frühen Selbstbildnis klein und geduckt am Schreibtisch sitzt, beäugt von einer Maske an der Wand, die zwei Gesichter hat – Leben und Tod?

Man bezweifelt nicht, dass es ernst um den jungen Kubin stand. Der Wunsch nach Auflösung zieht sich durch sein Leben, durch Briefe, Essays, Bilder. Als er am 20. August 1959, heute vor fünfzig Jahren, starb, hinterließ der 82-jährige „Künstler, Grübler, Seher“, wie er sich selbst nannte, nicht nur ein riesiges malerisches Werk und einige Schriften, sondern auch einen erfolgreichen Roman mit Illustrationen und Lageplan: „Die andere Seite“ erschien 1909 und gilt als Klassiker der phantastischen Literatur. Kubin, ein erruptiv arbeitender Mensch, will diesen Roman, als das Zeichnen einmal nicht klappte, in nur acht Wochen abgeworfen haben, die Bilder dazu in weiteren vier. Es ist die Geschichte eines gigantischen Verfalls, dem zwar eine Schöpfungsgeschichte vorausgegangen ist – aber Kubins erzählerisches Herz gilt dem Untergang. Schon als sein Ich-Erzähler, Zeichner wie er selbst, mit seiner Frau auf Einladung des alten Schulfreunds Patera dessen seltsames Traumreich betritt, streift die Reisenden im Grenztunnel kurz Todesangst. Jenseits eines kolossalen Eingangstors hat man ihnen Menschen mit eminent geschärften Sinnesorganen versprochen, dorthin geflüchtet, weil sie mit der modernen Kultur unzufrieden waren. Aber wo kein Fortschritt, da kein Ziel. Kleider verschimmeln, Ameisen pulverisieren die Mauern. Längst fault es im Traumreich Pateras. Weniger von den Rändern her. Eher ausgehend vom Zentrum einer sich selbst verschlingenden Leere.

Wovon nährt sich Kubins Depression? Und wie gelingen ihm, früh schon unter dem Eindruck von Gesichten im „Wunderrausch“, trotz eines äußerst empfindsamen Nervengespinsts in Schaffensphasen diese bizarren Szenen? Als er 1901 die ersten Bilder bei Paul Cassirer in Berlin ausstellt, stürzen sich die einen ungeschützt und begeistert in seine schwindelnden Abgründe; andere Betrachter wollen nichts wissen von seinen „krankhaften Phantasien“. Magere Wölfe strolchen in Schwarz-Weiß-Bildern verloren durch verwehte, fahle Gegenden; aus knöchernen Körpern wachsen ausladende Hintern, Rieseninsekten jagen Menschen. Im Bild „Geilheit“ hält ein dicht behaarter Hund mit erigiertem Riesenpenis, aus dem Samen tropft, eine nackte Frau in Schach. In Kubins bekanntestem Bild springt ein winziger Mann kopfüber pfeilschnell hinab in das struppige Geschlecht einer Frau, die mit geöffneten Schenkeln auf dem Rücken liegt. Es trägt den Titel „Der Todessprung“. Man spricht von „Psychographiken“. Fratzen, Tiermenschen, von teuflischer Kraft irre gewordene Frauen bevölkern Kubins Werk. Es gibt nichts, was in seinem Hirn nicht wuchern könnte. E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe hat er unter vielem anderen illustriert; Schopenhauer und Nietzsche quasi inhaliert.

Natürlich ist da also einerseits der satte Boden seiner Zeit, die gerade erst über die Schwelle von Freud geglitten war. Natürlich waten wir mit Kubin in jenem Düsterreich, das die Tücke allen Begehrens kennt. Trotz dieser symbolischen Durchschaubarkeit, trotz dieses triebhaften Wütens, schaudert es einen noch hundert Jahre nach Erscheinen seines einzigen Romans, wenn darin plötzlich in dunkler Nacht der „Klaps“, ein dürrer Gaul, durch die Straßen jagt – meist dann, wenn Patera seine Anfälle hat. Kubin öffnet die Kluft des Subjekts – aber nie isoliert von gesellschaftlichen Vorgängen.

Bleiben wir kurz bei diesem rätselhaften Traumreich-Schöpfer aus Kubins Roman. Ihn zu treffen, erweist sich für den umgesiedelten Erzähler als äußerst schwierig. Kafka, der Kubin 1911 in Prag traf, hat hier seine Welt gefunden. Sture Wächter verlangen unsägliche Dokumente wie das Schulaustrittszeugnis des Vaters. Auf unendlichen Fluren geht der Erzähler, während eine dunkle Kraft ihn zieht, verloren. Plötzlich aber entdeckt er Patera. Eine Art Super-Chamäleon der Literatur. Anfangs erscheint er dem verwirrten Erzähler wie ein griechischer Gott, vom Fratzentheater ständig verzerrt. Im katastrophischen Finale wächst Patera zum heiß urinierenden, Menschen verdampfenden Berg, der über Leichen stapft. Und mag auch Kubins Dramaturgie ständiger Überbietung bisweilen ermüden, so packen uns bis heute diese kalten Golemszenen.

Fast beginnt man dabei zu vergessen, wer hier berichtet – und von wo. Drei Jahre Traumleben haben dem Erzähler die Identität geraubt. Er schreibt jetzt aus einem Irrenhaus. Unzuverlässige Erzähler hat die Literatur dieser Zeit genug. Auch dieser hier, randständiger Chronist einer kollektiven Talfahrt in die Abgründe der Seele, verführt uns mit der Klarheit des Blicks – und versteht doch längst nicht alles, was er sieht. Er produziert jene Spielfiguren des Fantastischen, die uns reizen und seltsam vertraut erscheinen. Aus welchem Urschlamm gräbt er sie?

Das eigentlich Fantastische an diesem bildgewaltigen 100jährigen Klassiker phantastischer Literatur ist seine unendliche Biegbarkeit: Man kann diesen Roman lesen als subjektive Grenzerfahrung, als brachiale, traumwandlerische Triebentleerung, als Studie über Depression. Man kann ihn freilich lesen als Text seiner Zeit, als Ausdruck jener typischen Jahrhundertwendenerschöpfung durch (zu viel) Zivilisation, in welcher nun der expressionistische Kraftmensch protzt und schwächelt. Dann wieder schwingt reinste Systemkritik mit. Zeigt nicht das Leben der Traumleute die Verführbarkeit durch Ideologie und deren Scheitern?

„Ich will aufgehört haben“, schreibt Kubin in einem Brief an die Schwester 1904. Zugleich kennt er „die Kraft und Zähigkeit des Blutes, das leben will um jeden Preis, tierisch am bloßen Dasein hängt trotz der Qual, welche damit verbunden ist.“ In diesem Spannungsfeld muss sich das Leben Alfred Kubins zur Entstehungszeit des Romans abgespielt haben. Mit zehn erlebt er den Todeskampf der Mutter und sieht, wie der Vater „die lange Leiche der abgezehrten Frau aus dem Bett“ hebt und „damit weinend und wie um Hilfe rufend in der ganzen Wohnung“ herumläuft – ein Gefühlsausbruch, der den Jungen ängstigt. Nun ist er dem Vater ausgesetzt, der den Schulversager verachtet. Früh also bewegt sich Kubin in der „Eisregion einsamsten Grübelns“, die ihn zeitlebens prägt. Seinem Werk ist das Ringen mit Autoritäten, mit Schuld und Scham förmlich eingraviert. Dass er heute wegen seiner Nähe zur Künstlervereinigung „Blaue Reiter“, als Wegbereiter des Surrealismus, als dämonischer Visionär und vor allem Illustrator berühmt ist, mag offenbar jener Fähigkeit geschuldet zu sein, Panik und Plan, Chaos und Ordnung fruchtbar zu kreuzen. Der halluzinatorische Sog, der nach dem Betrachter greift, verliert sich dabei nie.

Alfred Kubins Roman „Die andere Seite“, ebenso zu empfehlen wie die Vertiefung in sein zeichnerisches Werk, hat Suhrkamp jetzt neu aufgelegt, mit Illustrationen von Kubin, aber ohne dessen Selbstbiographie, die alte Ausgaben des Romans noch enthalten. Stattdessen ließ man aber den österreichischen Schriftsteller und Büchnerpreisträger Josef Winkler für ein oszillierendes, an Kubins Leben sich anschmiegendes Nachwort zur Feder greifen.

 

Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman. Mit 51 Zeichnungen und einem Plan. Mit einem Nachwort von Josef Winkler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009, 308 Seiten, 24 €.

 

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG,  Januar 2009