Jonas Lüscher: Völlig pleite zwischen Kamelen

Kamele sind bemitleidenswerte Tiere. Kürzlich hatte es ein Kamel in die Schlagzeilen geschafft, als der französische Präsident François Hollande ein solches, als Gastgeschenk erhalten, wegen seiner vielen Termine nicht selbst betreuen konnte. Er parkte es deshalb bei einer Familie, die das Kamel schlachtete, was so nicht beabsichtigt war.

Kamele bebildern auch Jonas Lüschers hinreißend altmodisch erzählte Novelle Frühling der Barbaren. Man erwähnt sie beispielsweise als berberisches Hochzeitsmahl, gebraten, gefüllt und mit Couscous serviert. Das Kamel verbreitet Lokalkolorit, mehr nicht. Lüscher wollte ja keine Kamelstudie schreiben, sondern etwas über die Finanzkrise in Zeiten der Globalisierung mitteilen. Wie ist das, wenn sich ein Schweizer Unternehmer, der sich mehr für die Antike als für Maschinen interessiert, in Tunesien seinen Zuliefererbetrieb anschaut? Wenn er eben dort nur Kamele sieht?

Preising heißt der Unternehmensspross, der im Mittelpunkt des Geschehens steht. Er dürfte mittleren Alters sein und hat einfach Glück gehabt: Das ererbte, desolate Familienunternehmen machte ein guter Angestellter für ihn wieder flott, weshalb er als Inhaber einer weltweit agierenden BH-Bügelfabrik nun gut verdient, am Tag genauso viel, wie ein Kameltreiber in Tieren gerechnet sein Eigen nennt.

Als Preising auf seiner Reise einmal miterlebt, wie ein Reisebus in Kamele rast und die Existenz des Tunesiers zerstört, will er eigentlich Geld transferieren und helfen. Aber er denkt zu lange nach, und die Fahrt geht schon weiter: „In getrübter Stimmung ließ er sich von dem gestrandeten Reisebus, den toten Kamelen und ihrem unglücklichen Besitzer, dessen Schicksal ihn noch sehr bewegte, fortchauffieren. Bald aber tauchten die ausgedehnten Dattelplantagen der Oase Tschub vor ihm auf. Der Wüstenwind ließ die dunkelgrünen Wipfel erzittern, und aus der Ferne sah es aus, als kräuselten sich die Wellen auf der Oberfläche eines kühlen Sees.“

Das Geld sitzt locker

Preisings Erzählung über seinen Aufenthalt in Tunesien kommt in Fahrt, als er die hübsche, tunesische Geschäftsführerin erwähnt. Eigentlich hat sie keine Zeit für den Gast aus der Schweiz. Sie nimmt ihn deshalb mit in ein luxuriöses Wellness-Resort mitten in der Wüste. Saida, so heißt sie, muss hier zwischen Pool und Palmen eine Hochzeit organisieren, für junge, karrierebewusste, spaßbereite Banker, die eigens aus London angereist sind. Das Geld sitzt locker. Man geizt nicht, man zeigt schöne, unverschämt jugendliche Körper und ausgelassene Sorglosigkeit.

Niemand ahnt, dass jenseits der Wellness-Oase, weit weg in der britischen Großstadt, das bequem ererbte oder eisern verdiente, sich sodann jedenfalls wie von selbst vermehrende Geld gerade eine Talfahrt sondergleichen erlebt: England geht bankrott. Die Nachricht trifft die Hochzeitsgesellschaft noch vor dem Ringtausch. Prompt sind ihre Konten leer und aller Luxus gekappt. Frühling der Barbaren endet tatsächlich barbarisch. Mehr sei hier nicht verraten.

Preising ist ein wunderbarer Erzähler, der die Kunst der Abschweifung elegant beherrscht. Man möchte ihn schütteln, weil er nie handelt, weil er gar nicht handeln kann. Ständig wird er wieder weggezogen von den Orten, an denen es etwas zu tun gäbe. Und überhaupt begeistert er sich viel zu sehr für nebensächliche Details. Darüber offenbar lebensuntauglich geworden, hält er sich deshalb derzeit in einer Psychiatrie auf. Von seinem Erlebnis in Tunesien hat er sich aber noch nicht so ganz erholt. Oder ist es trotz der vielen Toten, die es am Ende gibt, längst Nebensache, beziehungsweise: nur eine schöne Erzählung?

Diese teilt er nun seinem neuen Bekannten mit, dem zweiten Ich-Erzähler, den Lüscher in seinem ausgeklügelten Gesellschaftspanoptikum installiert. Man spaziert zwischen den Mauern durch den Park. Man redet. Beziehungsweise: Preising redet. Der andere bremst und nordet ihn. Ein irres pas-de-deux ist das, wie es einst Thomas Bernhard in Gehen durchhielt. Genauso konsequent hält auch Jonas Lüscher die Form. Kleine Sticheleien hier, eine Andeutung dort. Was andere Autoren zu Romanen aufbauschen, sagt er in einem Absatz. „Doch in unserer Unfähigkeit, uns als Handelnde zu verstehen, waren wir uns gleich, Preising und ich. Ihm gelang es, diesen offensichtlichen Mangel als Tugend zu verstehen. Ich dagegen leide sehr darunter. Aber etwas daran zu ändern, hieße zu handeln.“ So knapp, so fokussiert kann man Depression und ihre unterschiedlichen Spielarten fassen.

Jonas Lüscher, 1976 in der Schweiz geboren, eigentlich reisefreudig, war selbst nie in Tunesien. Das ist auch egal, seine kluge, unterhaltsame Novelle, die auf engstem Raum das Scheitern des Geldkreislaufs beschreibt, hätte auch in jedem anderen künstlich erschaffenen Touristenort spielen können. Lüscher, ausgebildeter Lehrer, schreibt derzeit an seiner Doktorarbeit in Philosophie. Darüber, dass Erzählungen uns mehr sagen können als Computerprogramme.

Kinderarbeit kennt er

Sein eigenes Büchlein, sein erstes, ist dafür jedenfalls beispielhaft. Es ist überzeugend stringent gebaut und verrät viel über die Wirkmacht des Geldes auf den Charakter des Menschen und die Abhängigkeitsverhältnisse, in die er gerät. Preising, dieser ohnmächtig von den Ereignissen herumgestoßene Mann, überlebt in ummauerten, geschlossenen Orten.

Dass Lüscher seine Erzählerfiguren in der Beobachterrolle lässt, dass er sie strikt nicht handeln lässt, ist vielleicht die konsequenteste Art, die Krise in Literatur zu übersetzen. Preising ist freundlich und zugewandt, aber blind für die tunesischen Arbeitsbedingungen, für die undurchsichtigen Verschiebungen seines großen Geldes. Von Kinderarbeit hat er zwar schon gehört. Aber es wird ihm als „das kleinere Übel“ nahegebracht, weshalb er nicht weiter darüber nachdenkt. Wie gesagt: Kamele bannen ihn. Erst später die schuftenden Kinder. Da ist aber alles längst zu spät.

Romane über die Finanzkrise türmen sich zwar immer noch nicht. Aber man kann doch wählen. Da gibt es Rainald Goetz‘ Johann Holtrop, der gnadenlos zwischen Zahlen, Gehältern und unkontrollierbaren Unzufriedenheiten aller vom Geldrausch verdreckten Menschen hinabrauscht. Kristof Magnusson versuchte sich an einem jungen Helden in New York, der, weil es so verführerisch einfach ging, mal eben die Bank dort um Billionenbeträge erleichterte (Das war ich nicht, 2011). Nora Bossong studiert die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (2012) aus dem Blick einer Unternehmerin. Und es fielen einem noch andere ein. So knapp, so schlicht, so betörend einfach wie Jonas Lüscher hat es bislang aber noch niemand auf den Punkt gebracht.

 

Erschienen auf ZEIT ONLINE, 14.05.2013