Reportage: Yoga-Wohlfühlurlaub in der Casa el Morisco

„Weichei“. So das Urteil unserer 16jährigen Tochter. Ich habe ihr ein Foto von ihrem Vater geschickt, wie sie ihn noch nicht kennt: im Lotussitz, die Hände locker auf den Knien, die Handflächen nach oben geöffnet. Die Augen geschlossen, lächelnd. Eine friedliche Szene. Er sitzt auf einem kleinen Kissen in einem achteckigen Tempel, vor ihm ein Teich. Die Kois darin kann man auf dem Foto nicht sehen, aber sie sind zu vermuten. Eine Katze schleicht um uns herum, es duftet süßlich, hinter uns wächst ein märchenhaft fremder Baum, Frangipani, wie ein Etikett verrät, mit fleischigen, glatten Greifästen, die senkrecht aufgestellt sind, die Blüten sind schon zu erkennen, aber noch versenkt in kleinen Mulden an den Astspitzen. Spanien, Benajarafe, was „Sohn des Edlen“ bedeutet, 20 Kilometer östlich von Málaga, Andalusien. Unser erster Tag in der Casa el Morisco, die wir in acht Tagen ganz gegen unseren sonstigen Besichtigungswahn kaum verlassen werden, nur einmal für eine Küstenwanderung, die ein drahtiger 88-Jähriger führt, von dem noch die Rede sein wird. Die Szene fürs Foto ist gestellt, reine Provokation. Mein Mann hat weder Yoga- noch Meditiererfahrung, ich von beidem ein wenig. Ich falle hier nicht auf, eine von etwa 36 Frauen, die in dieser Osterwoche Urlaub im Paradies machen. Der Exot ist – mit drei anderen seiner Spezies – mein Mann. Jeder, der ihn begrüßt, betont sein Mann-Sein und entschuldigt sich danach sofort. Natürlich gilt hier Gleichbehandlung. Aber man freut sich eben doch über Mann. Unsere Heidi-Klum-sozialisierte Tochter hätte ihn lieber im Fitnessstudio gesehen, wenigstens auf dem Crosstrainier, Schwergewichte müssen nicht sein. Aber Yoga?

Der Grund dafür heißt Hie Kim. Wir hatten ihn bei Indigo entdeckt, einem Veranstalter „mit besonderen Reisen für besondere Menschen“, „die sich intensiver spüren möchten“ und „lieber eigenverantwortlich als fremdbestimmt“ leben. Ich googlete eigentlich nur so herum, aber mein Mann klickte das Video an, das Hie Kim als akrobatischen Athleten zeigt – auf, neben und über seiner Yogamatte schwebend, die er mitten in Frankfurt, wo er Yogalehrer ist, vor der Uni ausgerollt hat, um auch diese Klientel anzusprechen, wie er später verrät. Hinter ihm laufen Menschen gehetzt zur Arbeit. Die wenigsten bemerken ihn. Er steht für Sekunden kühn und leicht auf einer Hand, konzentriert, das Bein gestreckt, dann biegt er sich in eine neue Haltung, alles an ihm fließt, und so heißt diese Choreographie auch, „Flow“, wie wir diese Woche von ihm erfahren. „Da will ich hin“, sagt mein Mann, und ich ergreife die Chance, obwohl mich die Performance eher verschreckt.

Die Mittagsblumen schließen sich, das Abendessen, vegetarisch, schmeckt wunderbar. Man kann das Meer sehen, oder in die Küche hineinhören, wo die spanischen Köchinnen bei der Arbeit selbstvergessen singen, zum Radio, das ständig „Macarena“ bringt. Die Anlage geht über drei Terrassen, und manchmal sehen wir Wilfried, den Gründer, der 1993 hier Land kaufte und Gebäude zu den bereits bestehenden dazubaute. „Wir gehören keinem Glauben an, alles ist Leben“, heißt es bei der Begrüßungsrunde in der großen Yogahalle, die noch zwei kleinere Schwesternhallen hat, alle mit dem Schriftzeichen für „om“ versehen. Wir haben sie nicht gezählt, die Buddhas, die überall stehen, versteckt in Nischen oder selbstbewusst präsent, groß und winzig, mit Teelichtern, die abends eine freundliche, stille Kharma-Yogini angezündet hat, die hier Dienst versieht gegen Kost und Logis. Bei jedem Gang entdecken wir etwas Neues. Ein Herz, aus Kieselsteinen gelegt. Eine Schale mit Blüten. Eine Glaskugel, aus der ein Kopf lächelt. Klangrohre in einem Wurzelbaum. Die abgerundeten Steinbänke zieren farbenfrohe Mosaike. Überall laden Liegen oder Hängematten zum Verweilen ein. Wer Lust hat, springt eine Runde Riesentrampolin und danach ins Pool. Zur Dämmerung, wenn die Vögel im Chor singen, als hätten sie sich verabredet, öffnen sich die Pflanzen für eine weitere exzessive Riechrunde. Der Sinnesgarten, erzählt eine Infotafel, ist das Resultat Vieler, die sich mit Ritualen einstimmten, bevor sie ihn planten und verwirklichten. Nachts hört man manchmal mechanisch in regelmäßigem Intervall einen Laut. Ich halte ihn für eine Maschine. Aber es ist das vermutlich einzige zwangsneurotische Wesen hier weit und breit, ein Wiedehopf in der Balz, so Gerhard, der 88-Jährige, von dem noch die Rede sein wird.

Hie Kim ist ein Glücksgriff. Mit jugendlichem Charme und respektvollem Witz treibt er seine kleine Schar – wir sind acht – aus der Komfortzone heraus. Ich kenne Yoga anders und bin darauf gefasst, gefühlte fünf Minuten in das rechte Bein hineinzumeditieren, bevor ich es heben darf, um es dann lange zu halten. Nach dem Absetzen spüre ich normalerweise lange nach: Was hat diese Übung wohl mit mir gemacht? Wie mich verändert? Bei Hie komme ich gar nicht zum Grübeln, und das erweist sich als völlig neue Yoga-Erfahrung. Ich komme nicht mal dazu, mich über den Ehrgeiz meines Mannes lustig zu machen, den Hie ständig bewundern soll. Am dritten Tag ist der „herabschauende Hund“, eine Übung, die uns vorher den Schweiß auf die Stirne trieb, Entspannung pur, nur eine Zwischenstation vor weiteren freiwilligen Selbstquäleinheiten, deren Effekt jedesmal sofort spürbar ist, als, sagen wir, eine Art fröhliche Gestimmtheit. Am fünften Tag will ich den „Flow“, den Hie uns beigebracht hat, in ein tägliches Übungsprogramm zu Hause einbauen, wie Essen und Trinken, in Stille oder zu dem Lied „You Make It Real“ von James Morrison. „Mir“, sagt Hie Kim dazu, „macht das Lied Mut. Du kannst alles schaffen. Wenn du willst.“ Nichts wirkt auswendig gelernt, alles wird begründet, falls man nachfragt. Vieles hält er auch zurück, zum Glück. Dass er sich bei uns dafür bedankt, dass wir ihm vertrauen und er uns etwas beibringen darf, habe ich noch nirgendwo zuvor erlebt.

„Yoga als Spiegel deines Lebens“ heißt das Seminar, zwei Stunden morgens ab acht Uhr vor dem Frühstück, zwei Stunden am späten Nachmittag. Jede Einheit ist anders. Die „Asanas“ genannten Haltungen tragen einprägsame Namen, Kind, Kobra, Hund, Krieger, Taube, Tänzer. Hie drückt mal Schultern in die richtige Position oder verstärkt sachte eine Dehnung. Wir lachen viel, vielleicht aus purer Erschöpfung, oder weil Hie sagt, wir sollen uns vorstellen, wir wären Glühwürmchen, denen nichts wichtiger ist, als den Po mit vorbildlicher Pospannung gen Himmel zu strecken. Klingt albern, aber hilft. Hie Kim achtet sehr genau auf Details. Freundlich klopft er unsere Schultern, wenn es nicht mehr geht und wir eine Pause einlegen. Oder er sagt erstaunliche Sätze in die meditative Anfangs- und Endsequenz. „Du bist alleine in deinem Kopf. Allein ist etwas anderes als einsam. Du kannst froh sein, dass du alleine in deinem Kopf bist.“ Eine Teilnehmerin sagt: „Der hat ein altes Wissen.“

Hie Kim, 28, hat koreanische Wurzeln. Er ist in Hamburg aufgewachsen und unterrichtet seit fünf Jahren Yoga, vor allem den Inside-Stil des Frankfurter Studios gleichen Namens, wo er in einem großen Team arbeitet. Er hat Sport studiert, ist Träger des zweiten Dan im Taekwondo und Mitglied des Taepoong Demoteams. Auch da hat er schon immer gerne Anderen etwas beigebracht. Spielerisch, mit einer blitzenden Freude, die sich überträgt.

In der verbleibenden Zeit unseres „Wohlfühl-Yoga-Urlaubs“ pflegen wir den wohligen Muskelkater und helfen uns gegenseitig in neu gelernte Verdrehungen. Wie fordert man sich, ohne sich zu überfordern? Abendliche Tiefenentspannung nach Eckhart Tolle, angeboten von Marc, tut da gut. Zumindest meinem Mann, der behauptet, als Vogel durch den Raum geflogen zu sein. Danach war er eine Röhre, schließlich ein Schlauchboot. Ich fror. Ab 23 Uhr wird es ruhig in der Casa. Die Weintrink-Fraktion hält noch etwas länger durch, aber gut abgeschottet. Wer kein Seminar gebucht hat wie wir, nutzt das hauseigene tägliche Yogaangebot nebst besonderer Abende wie Mantren singen oder Trommeln. Extra-Wohlfühlen kostet extra. Im Angebot sind Ausflüge zu schönen Orten oder Märkten. Für Massagen verschwindet man zur verabredeten Zeit in eigens dafür freigehaltenen Zimmern namens „Imara“ und „Mudata“, vor denen eine der acht hier lebenden Katzen gerade genüsslich einen Buckel macht, ganz ohne Anleitung. Die hat Yoga im Blut. Bald entdecke ich auch Yogamücken, wie machen die das, so langsam gleiten? Und fällt nicht eines der Blätter der japanischen Mispel, die Früchte wie Mirabellen trägt, herab wie mein wackelnder Arm, wenn er „Krieger 3“ auf einem Bein versucht? Manchmal tropft der Baum. Herbst kennt er nicht. Vermutlich verjüngt er sich sekundlich, wie meine Körperzellen, die ich jetzt miteinander ins Gespräch gebracht habe. Sie können gar nicht mehr still sein.

„Manchmal kommst du nicht weiter, weil Vergangenes an dir klebt. Ein Wunsch-Ich, dass du gerne wärest.“ Hie Kim lässt kleine Pausen zwischen den Wörtern. Sie fallen hinter unsere geschlossenen Augenlider, bevor wir sie öffnen und Übungen zur Beckenöffnung machen. Der Körper lernt jetzt ohne Einflüsterung, aber trotzdem scheint beides miteinander zu tun zu haben, es gibt eine Verbindung zum Geist, aber ich muss sie nicht analysieren. Wie schön. Wo nehme ich die Kraft für den Handstand her, in den mich Hie hineinüberrascht?

Alt werden wie Gerhard, der 88-Jährige, von dem jetzt endlich die Rede sein soll. Gegen Ende der Woche führt er uns einen traumhaften Küstenpfad hoch überm Meer entlang. Es duftet nach Rosmarin. Am alten Wachturm machen wir kurz Pause, und Gerhard erzählt, wie im Mittelalter hier Piraten angriffen. Vor vier Jahren hat Gerhard in der Casa noch eine Ausbildung zum Yogalehrer gemacht. Er wirkt bodenfest, im doppelten Sinn, wenn er beim Wandern wie eine Gemse Tritt fasst, und in dem, was er sagt. Es ist die wertschätzende Haltung allem gegenüber, die einen für ihn einnimmt. Und – Achtung, jetzt kommen große Worte – Demut und Präsenz. Wir entdecken tatsächlich Gemsen. Eine ganze Familie. Sie wechseln gerade ihre Farbe.

 

erschienen im Reiseteil der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG,  Januar 2014