Hanns-Josef Ortheil: Der Stift und das Papier

Hanns-Josef Ortheil, geboren 1951, ist der Schriftsteller, der nicht sprach. In „Die Erfindung des Lebens“ (2009) erzählt er eindrucksvoll, wie er im dritten Lebensjahr verstummt war, zusammen mit der Mutter. Sie hatte während des Krieges und danach vier Söhne verloren. Vielleicht imitierte er sie. Vielleicht körperte sich die Trauer der Mutter tief in den einzig verbliebenen Sohn ein. Wie aber fand „das mutistische Kind“, so die heute gebräuchliche, kühle Diagnose, in das Sprechen wieder hinein und wurde schließlich der renommierte Autor so vieler Romane, die das Leben besingen?
 Das erzählt nun „Der Stift und das Papier“, ein Buch, allen Vätern ans Herz gelegt, obwohl die Geschichte als Gegenpart genauso unbedingt auch den guten Sohn braucht. Es ist also die Geschichte vom guten Vater und vom guten Sohn. Sie beginnt im Westerwald, wo der Vater gerne in seiner Jagdhütte sitzt und großformatige Baupläne für seine Arbeit als Geodät, als Vermesser zeichnet. Ein heiliger Ort, den der Sohn normalerweise nicht betritt. Diese besonderen Sommerferien aber doch. Es gab nämlich zuvor in Köln, wo man zu dritt wohnt, ein Lehrergespräch, an dessen Ende dem Vater mitgeteilt wurde, dass es so nicht ginge mit dem Sohn in der ersten Volksschulklasse. Er hatte zwar wieder zu sprechen begonnen, von einem Tag auf den anderen, nachdem der Vater mit ihm viel Zeit im Wald verbrachte und ihn alles, was er sah, zeichnen ließ. Aber der Junge komme nicht mit. Er müsse Lesen und Schreiben lernen und ansonsten in die Sonderschule.
Der Vater lässt sich davon keineswegs unter Druck setzen. Er gibt den Druck auch nicht an den Sohn weiter. Im Gegenteil schafft er in den anstehenden Ferienwochen in der Jagdhütte aus Geduld, Beziehung und Zurücknahme seiner selbst eine besondere Atmosphäre. Zunächst allein durch Pauspapier, das er auf den Tisch heftet. Hanns-Josef darf Kreise darauf malen, so viele, bis sie ein Himmel sind, mit farbigen Buntstiften und Bleistiften, die gut in der Hand liegen. Warum nicht einfach den Bleistift beschreiben? „Hauchdünn“ steht darauf, ein schönes Wort. Im Hintergrund läuft Klaviermusik, ein bisschen Bach, ein wenig Händel. Essen und Trinken bleiben draußen. Die Jagdhütte ist ein Raum der Konzentration und bald auch der Kontemplation. Einige Stunden und Tage und Wochen später hat der Junge so viel Gemüse abgezeichnet, Radieschen, Rettiche, Kürbisse, das Wetter beschrieben und was er am Morgen gefrühstückt hat, dass sich neben dem Arbeitstisch im Wandregal kleine, quadratisch ausgeschnittene Zettel stapeln, „ein Archiv“, freut sich der Vater, und der Sohn fragt nach: „Ein Archiv?“
Hier nun muss man kurz innehalten, um wirklich würdigen zu können, was diesen Vater auszeichnet. Er hebt jetzt nicht etwa bescheidwisserisch mit Erklärungen und Definitionen darüber an, was ein Archiv sei, sondern sagt schlicht: Beschreib es doch einmal, in deinen eigenen Worten. Die Formulierung, die sich dann findet, ist so schön und genau, dass sie aufgeschrieben gehört, „damit wir sie nicht vergessen“, und man merkt schon: Da ist er, der Keim jener Besessenheit, die Schriftsteller auszeichnet, Ortheil insbesondere, der bis heute wahrnehmend und aufschreibend lebt. Diese Lebensform scheint hier gegossen, in der Jagdhütte zwischen Stift und Pauspapier, in der Beziehung zwischen einem Vater und seinem Sohn. Ist genug gearbeitet in der Schreibschule, tönt nicht etwa ein Pausengong, sondern der Vater sagt: Jetzt wollen wir alles eine Weile vergessen. Dann freuen wir uns später umso mehr.
Die Lebenswirklichkeit des Jungen erhält in diesen von ihm selbst gefundenen
ureigenen, genauen Formulierungen eine Tiefenschärfe, wie sie kein Schulbuch mit langweiligen Diktaten vermitteln kann. Alles ist für ihn plötzlich greifbar, so, als baumelten an jedem Ding und jedem Gedanken einzelne, beschriftete und bemalte Schilder. So beschreibt es Ortheil einmal. Und man kann sich die Konfusion und Dunkelheit der „unheimlichen Zeit“ davor nur annähernd ausmalen, wenn er andeutet, er habe sich ein Küken grün vorgestellt, wegen des gemeinsamen Lauts „ü“. Noch heute habe er Angst, dass dieser Zustand wieder beginnt. Diese Angst schlägt die Brücke in eine Vergangenheit, die selbst wie durch Pauspapier sichtbar wird: leicht verschleiert, weil einem der Verstand beim Lesen streberhaft zuflüstert, dass Erinnern auch Umbauen und Neuordnen bedeutet. Aber warum auch nicht? Und wie schon in den anderen autobiographisch gefärbten Büchern, „Die Moselreise“ oder „Das Kind, das nicht fragte“, ist alles leicht und behutsam und mit einer Langsamkeit erzählt, die dem faszinierenden Vorgang des Ins-Leben- Gehens angemessen erscheint. Ortheil muss sich dabei nicht einmal anstrengen. Er ist wieder „das Kind, das schreibt“ und muss nicht in dritter Person erzählen, wie noch in der „Erfindung des Lebens“. Er schreibt dieses Buch in der Jagdhütte, und alles ist in rascher Folge wieder da.
Gerade weil es nie ums Erfinden, nie ums Schriftstellerwerden ging, hatte die- se unbefangene Schreibschule des Vaters große Wirkung. Zum einen traf sie überraschenderweise auf einen wortbereiten und wortbegeisterten, mitmachenden Sohn und dessen Formuliertalent. Zum andern lebte sie von ungewöhnlichen Ideen. Heute würde man sagen: Sie installierte Kulturtechniken. Die Ortheils sprachen von „Tagesseiten“, die sie aus den gesammelten Papieren mit ausgeschnittenen, selbstbeschrifteten Lieblingszeitungsfotos erstellten: Verdichtungen bis zum „Wochengedicht“, das sieben Tage in wenigen Zeilen erinnerbar machte. Man kann diese wachsende Chronik hervorholen und anschauen. Auch dafür wird extra Zeit einberaumt. Dem Jungen, der zuvor in der Zeit schwamm, gibt die in eigenen Worten festgehaltene Zeit neuen Halt. Bis heute pflegt Ortheil Tagesnotizen, die Material für Romane werden können. Die Lehrstunden zum kreativen Schreiben an der Hildesheimer Universität, an welcher er seit 1990 unterrichtet, sind möglicher- weise auch ein Vater-Memorial.
Fast entschuldigend fällt das Wort „genial“. Der Vater, der in der „Moselreise“ seinen Sohn durch Ortswechsel rettete, schien pädagogische mit psychologischen Fähigkeiten spielerisch vereint zu haben. Vor allem aber hat er eine funktionierende Beziehung zur Verfügung gestellt. Und so kann die Privatschule, die keinem Kanon dient, ausgebaut werden. Erste Dialoge und Szenen entstehen. Besondere Wörter wie „Haudegen“ werden „bestimmt“ wie seltene Pflanzen. Die Welt wird zu Wörtern und umgekehrt. Man vergisst fast, dass alles aus der Not geboren war, dass es nie um Literatur, sondern ums „Normalwerden“ gegangen war. Die Prüfung zum Schuljahresbeginn besteht der gelehrige Schüler mit links. Verzaubert aber hat ihn kein Lehrplan, sondern die Schreibzeit in der Hütte.
Gerade rechtzeitig stößt dieses Buch aus dem fast sakralen Raum einer gelingenden Vater-Sohn-Geschichte in die wortlosen Suchbewegungen des Heranwachsenden vor. Die bundesrepublikanischen Fünfziger staffieren diese Innenkulisse mit jener vergilbten Farbe aus, die dem Erzählten zuträglich ist. Der Junge, der schreibt, muss damit ja noch an die Öffentlichkeit. Erste Leserin ist die Mutter, zweite schon Andrea, eine Mitschülerin, der eher an heimlichen Treffen gelegen ist, was der Gleichaltrige naturgemäß nicht gleich begreift. Das heimliche Schreiben entzieht sich mit dem Erstabdruck dreier Miniaturen in der örtlichen Zeitung allmählich dem engen Kreis der Eltern. Die Loslösung beginnt. Bäckersfrauen und Metzger wissen nun vom „Kind, das schreibt“. Geradezu befreiend wirkt Ortheils abschweifendes Erzählen entlang dieser Schreibbiographie hin zu Fragen um Ruhm, Medialisierung, Besessenheit. Er bewegt sich aus der „peniblen Exaktheit“, welche die väterliche Statistikberechnung charakterisiert, in den weiten Raum der Reflexion und Selbstzweifel hinaus; vom Zirkelkasten der Jagdhütte in die leisen Verwirrungen neuer Hürden. Und das Kind wie das Buch beginnen zu atmen, als endlich von Mitschülern wie „Manni“ die Rede ist, vom Schreiben für Zeitungen und zuletzt vom „Weiterschreiben“ – schließlich auch gegen das Klavier, denn lange bleibt unentschieden, ob Ortheil Pianist wird oder Autor.
Man weiß, wie der Kampf ausgeht und hat manches in Variationen schon anderswo gelesen. Und doch berührt am Ende die Erkenntnis, dass Schreiben die Einsamkeit des stummen Kindes reinszeniert. Diesen dunklen Raum, den Kreativität zu entgrenzen vermag, erforscht „Der Stift und das Papier“.

Hanns-Josef Ortheil: „Der Stift und das Papier“. Roman einer Passion. Luchterhand Verlag, München 2015. 384 S., geb., 21,99 €.

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, Februar 2016