Connie Palmen: Logbuch eines unbarmherzigen Todes

Connie Palmen beginnt 48 Tage nach dem Tod Hans von Mierlos mit ersten Notizen. „Ich wollte einen Roman schreiben, der den Titel Judas tragen sollte – und da starb mein Mann.“ Elf Jahre Leben teilte sie mit dem in den Niederlanden prominenten und beliebten Politiker. Ein paar Monate zuvor heiratete das Paar. Kann man als Außenstehender Zugang finden zur Trauer? Darf man? Wie schreibt man darüber?

Connie Palmen muss es zum zweiten Mal tun. „I.M.“ (1998) schrieb sie nach dem plötzlichen Tod des Journalisten und Talkmasters Ischa Meijer, mit dem sie vier Jahre zusammen war. Ein Buch des Schmerzes, fast ein Liebesroman. So intim manchmal, dass man sich nicht traute, mitzulesen. Jetzt ist das anders, obwohl Connie Palmen auch diesmal ihrer entwaffnend genauen Poetik vertraut. Sie schaut hin. Sie entblößt sich und ihre Hilflosigkeit, ihre Ausflüchte ins Trinken, ihr Verschwinden hinter dem Styx. Abends kochen Freunde mit ihr, morgens zwingt sie sich zur Zeitungslektüre, Rituale geben Struktur in diesem „Meer aus Zeit“. Sie entdeckt, dass sie den Geruch nicht mehr erinnert. Im Auto herumgefahren zu werden beruhigt. Das Leiden sieht sie als Tribut für diese Liebe, dieses Glück. Wenn nachts ein Gewitterschlag kommt und niemand da ist zum Anklammern, ist sie tapferer als sonst. Ungerufen ist die Erinnerung immer schon da. „‚Das ist großes Wetter‘, sagt er beruhigend, mit einer Stimmer, in der noch etwas Nacht klingt.“ Sie vergleicht den einen mit dem anderen Tod, den brüsken von „I.M.“, der „eine monatelang anhaltende Erschütterung“ auslöst, und den Tod nach langer Krankheit, wo „die Trauer im Leben“ einsetzt. Sie erwacht anders als beim ersten Tod.

Und doch ist „Logbuch eines unbarmherzigen Jahres“ anders als „I.M.“. Es ist kein vom Schmerz gezeichneter Liebesroman, keine Litanei, auch kein Denkmal für Hans von Mierlo, die öffentliche Person. Palmens Buch drängt sich nicht auf, obwohl es so viel Gefühl enthält. Es nimmt sich aber auch nicht zurück, sondern rückt einen auf den Leib, gerade so nah, wie jeder es für sich verkraften mag. Es wird in seinem Protokollton, in seinen wie Fallbeile in diesem unbarmherzigen Jahr hereinbrechenden Todesnachrichten, zur „Chronik der Trauer“, die zugleich auf eine seltsame Art eine Chronik des Lebens ist.

Kurz nach Hans von Mierlo stirbt dessen Schwester. Dann Palmens Graphiker. Der Autor Harry Mulisch. Anna Keel, die Frau des Diogenes-Verlegers Daniel Keel, und ein Jahr darauf dieser selbst. Auch eine Großtante. „Wir stehen alle an, Kind“, sagt Connie Palmens Mutter, als sie die Nachricht überbringt. Es stirbt auch Marie, die Tochter Hans von Mierlos, ein Jahr nach dem Vater, mit 45 Jahren. Zu ihr hat Connie Palmen eine enge Beziehung, auch der Leser, der sie durch dieses Buch noch begleitet. Dieser Tod wiegt am schwersten, falls das messbar ist.

Die Momentaufnahmen, die Connie Palmen in diesem unglaublichen Trauermarsch zusammenträgt, verändern sich ständig. Schonungslos tastet sie dieses Jahr ab; seine Gegenwart, in der es keinen Halt gibt; seine Vergangenheit, die immer wieder hineinstrahlt wie aus einer anderen Zeit – durch Einschübe von älteren Einträgen und Reflexionen über den Tod; auch Hans von Mierlo, der anders wahrnahm durch Tagebuchschreiben, kommt zu Wort. Man muss schon auf die Jahreszahl achten, um die so gegenwärtig klingenden Passagen von der Tagesnotiz scheiden zu können. Hinter der persönlichen Verlusterfahrung macht Connie Palmen das Erleben Anderer sichtbar. Das sind viele Gründe, warum ihr Buch eines für viele werden kann, warum es sogar ein seltsam befreiendes Buch ist. Connie Palmen war schon immer eine ausgesucht Lesende, die einen an ihren Funden teilhaben lässt. Auch jetzt prüft sie Texte, die das Ungreifbare in eine Form bringen. In der Literatur bilden sie längst eine eigene Textfamilie: Roland Barthes „Tagebuch der Trauer“ oder Anne Philipes „Nur einen Seufzer lang“. P.F. Thomése schreibt in „Schattenkind“: „Es gibt nur noch Wörter, die mit Un- und Ent- anfangen, also Wörter, die sich von etwas zu lösen, die etwas nicht zu sagen versuchen.“ Joyce Carol Oates schreibt, sie halte sich aufrecht als „öffentliche Person“, als „Kunstfigur“, die der Beruf ihr beschert. Immer die gleiche Geschichte, immer anders erzählt. Connie Palmen war auf der Suche nach einem Klagelied, aber „man braucht fast biblische Wörter, um das zu beschreiben“, so weit weg ist diese Möglichkeit des Ausdrucks, des Lamentierens, sagt sie in einem Interview. In welcher Form? Dem Tagebuch misstraut sie. Die Vorstellung von einem Logbuch ist ihr lieber. Ein Logbuch verpflichtet zum Schreiben, denn es kann als Beweismittel wichtig sein. Man tut etwas, man tut nicht nichts, und man tut es unter dem Vorwand, es nicht zu veröffentlichen. Dass sie ihr Buch dabei aus der Form gehen lässt, es hierhin und dorthin wachsen lässt, ist notwendig. Connie Palmen nimmt die Trauer von allen Seiten in den Blick. Sie zeichnet auf, wie sie sich entwickelt, wiederholt, verändert; wie sie verschließt und vor allem öffnet. Ihr Sprechen über die Trauer ist eine Gratwanderung, die sich bedingungslos allem öffnet. Fast. Denn es heißt ja auch: „Ich weiß, das man mehr nicht aufschreibt.“ Dazwischen, dahinter ist Connie Palmens bewegender Bericht verortet.

 

Connie Palmen: Logbuch eines unbarmherzigen Jahres. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. (Original: 2011) Diogenes Verlag, Zürich 2013. 265 Seiten, 21,90 €.

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 2013