Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

Auf den ersten Blick ist dieser Roman eine Zumutung. Entweder also, man flüchtet. Oder man duckt sich in diese Sprache hinein, schmeckt ihr nach, lässt sich öffnen und in Erwartung versetzen durch die Verzögerung, mit der hier allein durch das Zurückhalten des sinnstiftenden Wortes jeder Satz quasi erst im Rückwärtsgang verstanden werden kann. Patrick Roth liebt Platon, Pindar, die griechische Syntax, die einen warten lässt auf das Genitivattribut. Er schätzt das damit einhergehende Gefühl einer existentiellen Feierlichkeit, die Abgründe ausleuchtet. Und so ist das, was er jetzt selbst für sein Buch über Joseph, den Ziehvater Jesu, mit diesem hohen Ton, mit dieser biblischen Sprache und ihren psalmischen, wuchtigen, fleischigen Szenen anstellt, eigentlich gar nicht so überraschend. Hat man sich einmal darauf eingelassen, spürt man den radikalen Ernst, der den Stoff trägt. Die Lektüre fordert, überfordert, lässt rätseln und entschlüsseln und erneut rätseln und fesselt zunehmend, weil mit jedem errungenen Wissen in dieser metaphysisch organisierten Welt ein neuer, spitzer Splitter platziert wird, mit jeder Antwort eine neue, widerspenstige Disharmonie. Jedes Kapitel ist ein Gang durch Leben und Tod, mit Opferblut geschwärzt, mit Flügelschlag geweiht. Also: nur Mut zur Versenkung in diesen so anderen Erzählkosmos.

Patrick Roth, 1953 in Freiburg geboren und seit 1975 in Los Angeles lebend, Drehbuchschreiber, Autor von Prosa, Theaterstücken, Hörspielen, ist in der deutschsprachigen Literaturlandschaft ein Solitär. Seine Affinität zu religiösen Stoffen ist vielen der Leser, die etwa sein Buch über Charlie Chaplin liebten, eher suspekt. Nach der Christus-Trilogie „Riverside“ (1991), „Johnny Shines“ (1993), „Corpus Christi“ (1996), alles schmalere Bücher, macht er jetzt in seinem bisher längsten Roman „Sunrise. Das Buch Joseph“ eine biblische Randfigur zum Helden. Joseph kennt man ja eher als den Mann im Hintergrund. In der Heiligen Familie spielt er als Nährvater und Beschützer eine Rolle. An der Wiege darf er die Laterne halten. Klaglos verzichtet er nach Kenntnisnahme von Marias Schwangerschaft auf den männlichen Ehrenstandpunkt und die genealogische Fortsetzung seiner Linie. Was die Evangelisten übermitteln, sind seine Träume, kaum Fakten.

Hier setzt der an C.G. Jungs Lehre von der Archetypie alles Geträumten geschulte Patrick Roth an. Er zeigt einen hochmodernen Joseph, der nicht nur fähig ist, Träume zu empfangen und zu erinnern, sondern ihre krasse Bildsprache, ihren schier unmenschlichen Auftrag auszuhalten, sogar in eine Handlung zu überführen. Er hört dem 12jährigen Jesus geduldig zu, als dieser ihm nach der bekannten Szene im Tempel von einem Traum erzählt. Er hakt nach, spekuliert, lässt Raum. Was für ein zugewandter Vater! Maria steht in dieser Kleinfamilie eher am Rande. Das Reden und Zuhören ist nicht ihr Terrain.

Gerade die Rolle als ahnender Mensch wird für Joseph aber zur eigentlichen Zumutung. Sie fordert ihn als Empathiker, als Zweifelnden, der jede Nuance Angst bis ins Mark spürt. Der Vorgang des Deutens wächst zu einem komplexen Ungetüm mit tausend Köpfen und Stimmen heran. Und so wird der Roman schließlich zu einem Netzwerk aus Zeichen. Fundamentale Gegenstände, die eine ganz eigene Geschichte erzählen, wie das Seil oder das Tuch, spielen eine wichtige leitmotivische Rolle. Das eigentlich Faszinierende aber sind die Räume, die Patrick Roth hier baut und die wir mit Joseph durchtaumeln: brennende Häuser, würgend enge Felsspalten, schier unendliche Wüsten, eine vertrocknete Zisterne, aus der Ähren wachsen. Füchse erscheinen, schauen kurz auf und trollen sich wieder. Verbunden ist das mit einer sich stark vermittelnden, körperlichen Verfasstheit. Joseph muss sich im Traum krümmen, um am Boden liegende Scherben zu entziffern. Er kriecht, er verstummt, er erblindet. Und sehr oft trägt er schwere Lasten: einen verwundeten Sklaven, der eine wichtige Rolle spielen wird; Maria, für die er den geretteten Sklaven ablegen muss. Joseph ist beladen, an der Wende seines Lebens wie tot, am Ende dieser Odyssee aber leicht wie ein Engel.

Das ist zunächst einmal also eine vertraute biblische Konstellation: Joseph als der bloße Mensch, der Gottes Plan und seine Orakel zu durchschauen versucht. Und Gott, der diesen Menschen bis aufs Messer prüft – keiner kann vom Anderen lassen. Roth erzählt also Josephs Individuation unter einem die Transzendenz zulassenden Blickwinkel. Schon das gilt ja in der gegenwärtigen Literatur nicht gerade als Trend. Und natürlich denkt man an einen anderen großen Monolithen der Literaturgeschichte, Thomas Manns monumentalen Vierbänder „Joseph und seine Brüder“ über den anderen Joseph, den jüngsten Sohn Jaakobs. Motive überschneiden sich. Und auch Roths Komposition ist als großes Beziehungsgeflecht angelegt. Beide Werke sind als moderne Auslegung von Mythologie zu lesen und verlängern alttestamentarisches Material in die Zukunft. Während aber Thomas Manns Figur mehr Intellektueller ist, wirkt der Rothsche Joseph im innersten Kern zerrieben und durchkreuzt. Um diesen nackten Helden zu spiegeln und vorzuführen, schmückt Roth aus und erfindet. Er verdichtet, beraubt die Bibel, tauscht einfach Namen und bekannte Geschichten aus und lässt sie Joseph zustoßen. So soll er beispielsweise Jesus opfern – wie in der Bibel Abraham seinen Sohn Isaak. Nicht Wissen, sondern Erfahrung läutert hier. Ergibt das Sinn?

Roth, für sein filmisches Erzählen bekannt, mischt alles zu einer archaischen Abenteuergeschichte mit historischen Orten, mit Schnitten, Rückblenden und wechselnd scharfen Perspektiven auf das bisweilen sehr handfeste und blutige Geschehen. Es beginnt in Jerusalem 70 Jahre nach Christi Geburt. Die Stadt, von römischen Truppen belagert, ist im Ausnahmezustand, jeder seines Nächsten Feind. Hungernde klauben letzte Reste aus den Mündern Verstorbener. Tote säumen die Hänge des Kidrontals. Wir begleiten Männer, die sich in diese irdische Hölle eingeschleust haben, um das Grab Jesu‘ zu suchen und zu schützen. Stattdessen treffen sie auf Neith, eine alte Frau und Weberin. In der Mythologie wird sie mit der Jagd und Wasser in Verbindung gebracht; hier erlebt man sie als begnadete Erzählerin. Wie sie ihre Stimme erhebt, ist von einschüchternder Prägnanz, und was sie zu berichten hat über Joseph, ihren Herrn, ist so ganz anders als alles, was die historische Figur preisgibt.

Neith zufolge hatte Joseph vor Maria schon mal Frau und Sohn, gleichfalls mit Namen Jesus. Bei einem Sturm glitt der damals einjährige Jesus seinem Vater Joseph aus der Hand ins Wasser. Joseph taucht hinterher, und bereits hier beginnt Roths großer Bildersturm, seine steile Hinabfahrt in den Orkus. Im Grunde kennt dieses Buch zwei große Bewegungen: das Fallen und das Steigen. So teilt Roth auch seine Kapitel ein, in „Die Bücher des Abstiegs“ und „Die Bücher des Aufstiegs“. Die Symmetrie ist hier Prinzip. Außerdem die Wiederkehr. Alles muss zweimal erlebt und erfahren werden, als bildete sich Lebensweisheit überhaupt erst beim zweiten Versuch, mit dem Wissen der Möglichkeit des Scheiterns. Kleinste, intuitive Handlungen haben unermessliche Wirkungen. Übermenschliches wird mit Kleistscher Ohnmacht quittiert, Rollen werden umgeschrieben. Und auch die Ägypterin Neith, diese ewige Erzählerin, ist eine ganz Andere als die, für die man sie lange hält. Man muss das nicht alles unterstreichen bis in die letzte Konsequenz, die Joseph mit seinem Zugang zum Unbewussten und seinen Heilserfahrungen irgendwo zwischen Mensch und Gott verortet. Aber man kann sich schon dieser aufgeladenen Sprache ergeben, als Experiment.

Diese durchrhythmisierte Sprache ist vergleichbar den Psalmen, die bis heute irritieren und keinen Rost angesetzt haben. Man durchläuft Roths Roman wie ein verwildertes, verdörrendes Land, an dessen Oberfläche Schlachten wüten und in dessen Gräben sich Eingänge zu Höhlen befinden, die man nur mit Begleitschutz betreten mag. Mitten drin Joseph und seine Träume, Szenen wie aus uralten Märchen, die sich in dieses Leben eindrücken und Erhebungen hinterlassen: „Und wie Mehl und Brot riecht`s am Gewande des blinden Alten, als Joseph sich abwendet im Traum“. Da gibt es nahezu Heideggersche Sequenzen (er „sah sie anwesen, die Bilder“); Verben werden vorgezogen und gewinnen so an Kraft („denn es rieben rauh an der Haut ihm die Stricke“); Bedeutungen changieren, wenn nur ein Buchstabe ausgetauscht wird („aufgehoben, ausgehoben“); es gibt, wie in Psalmen auch, wunderbare, vergangene, aufgeladene Worte mit Klang („eine Tracht Holz“). Es scheint, selbst die Syntax hat eine Art Wissen und stellt viel zu früh Informationen bereit, die erst im Draufblick auf die Gesamtkomposition verlinkt werden können. Gehalten wird diese Komposition durch Roths beherzten Zugriff auf alles, was auch Filme spannend macht: Raubüberfälle, Gewaltszenen, das Zaudern und Verschmerzen davor und danach. Ein Angriff etwa liest sich dann so: „Aus der Hocke heraus springt er hoch. Und wild drängt nach hinten. Vorm Herankommenden weicht er, fällt auf den Boden, staucht blind, unterdrückt einen Schrei.“ Dann zieht es einen wieder weiter, mit Satzkaskaden, alle durch ein „und“ miteinander verknüpft, als wären Josephs Erlebnisse zugleich historisch und ewig, als müsste es immer so weitergehen im Zwischentraumreich. Ein Strudel, der hinabzieht und einen wieder an die ganz banale Oberfläche des Alltags heraufspült.

Was also macht Patrick Roth aus Joseph? Womöglich genau das, was Albrecht Koschorke in seinem klugen Buch über „Die Heilige Familie und ihre Folgen“ herausarbeitet. Dieser sieht Joseph an der Schnittstelle zwischen Judentum und Christentum: Mit ihm werde die irdische Reihenfolge gekappt und Raum geschaffen für himmlische Genealogien. Außerdem reiße eine bestimmte Form von Lesbarkeit ab „zugunsten der Auferstehung des Sinns. Von nun an werden zentrale Instanzen nur noch in der Form der Doppelung kulturell verfügbar sein: der Vater (Joseph/Gott); der Mann (leiblicher Ausschluss/himmlische Ergießung); der Phallus (als Samen-/als Wortkanal); der Ursprung (durch Blutsverwandtschaft/spirituell“). Bei Roth kommt das alles irgendwie vor. Es zu ergründen bleibt Aufgabe der Literaturwissenschaftler oder Theologen. Für normal sterbliche Leser tritt einem Joseph als der große Aushalter entgegen, dessen Leben mit der Verkündigung umgewälzt und durchwalkt wird. Das leuchtet ein und reißt mit.

 

Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 510 Seiten, 24,90 €.

 

 

erschienen in der  FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 2012