Gerhard Roth: Entdeckungen im Inneren von Wien

Wäre Gerhard Roth nicht Schriftsteller geworden, beugte er sich wohl gerade, etwa als Insektologe, über die besondere Spezies eines Schmetterlings. Vielleicht arbeitete er auch als Wurmspezialist wie jene „feine Dame“ im Naturhistorischen Museum von Wien, „die jedes einzelne ihrer Tausenden, in klarem Alkohol und Zylindergefäßen aufbewahrten Tierchen liebt“. Jetzt, als Autor, liebt Roth die Tiere, die Menschen, die Gegenstände, weil sich hinter manchen eine schöne Geschichte verbirgt. Und weil er sie nicht alle kennt, lässt er in seinem neuen Buch „Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien“ oft Andere davon erzählen.

Die in Gerhard Roths Innerem kleingeschrumpften Biologen, Geologen, Historiker, Mediziner (mit dem gleichnamigen Hirnforscher teilt er übrigens nur das Geburtsjahr 1942) hat man über die Jahre seines literarischen Schaffens immer wieder herausgehört. Sie luden ihre kleinen Details bereits in Roths Essays und Romanen ab, die monolithische Titel tragen wie „Der See“, „Der Plan“, „Der Berg“, „Der Strom“ oder „Das Labyrinth“. Roths Romane verwandeln sich tatsächlich oft in wuchtige Wissenslabyrinthe, an denen seine Figuren allmählich irre gehen, wenn sie es nicht schon von Anfang an sind. Und auch die Leser wissen nicht immer Sinn und Zweck dieses Aufgebots an Wissen, bleibt doch am Ende oft ein geheimnisvoller, ungelöster Rest.

Die Stadt Wien nun, die unterirdische ebenso wie die oberirdische, ist Gerhard Roth ans Herz gewachsen. Seit 1986 durchforscht er sie, und schon einmal war ein Buch aus diesen Essays, die er für die ZEIT und die FAZ schrieb, daraus hervorgegangen („Eine Reise in das Innere von Wien“, 1991). Viel Text ist seitdem nachgewachsen. Roths Vorgehen wirkt dabei immer planvoller. Nie ist er nur Journalist, nie nur Sammler für einen Lexikonartikel. Obwohl er alles das zugleich auch ist. Sobald aber Gefahr besteht, dass eines von beiden überwiegt – das Auflisten von Informationen oder das Sich-Verlieren in einer schönen Nebengeschichte – nimmt Roth Zuflucht in einer intimen Gedankenbucht: Hat nicht das Wiener Nachtpfauenauge, das sich einmal mehr als eine Stunde lang auf Roths alter Eingangstür niedergelassen hatte, mehr Zugkraft als alle die hinter Vitrinen gefangenen Schmetterlinge des Museums zusammen? Von seinen Essays geht ein geheimnisvolles Netzwerk aus, horizontale wie vertikale Linien. Sie ergeben mysteriöse Pfade und führen unversehens von der getanzten Sprache eines Bienenschwarms über die Gebärdensprache der Gehörlosen bis hin zu jenem blinden Pfarrer, der sich von seinen Gehilfen schildern lässt, was diese gerade beobachten.

Eigentlich macht Gerhard Roth nichts anderes, wenn er etwa mit dem Direktor des Wiener Uhrenmuseums ehrfurchtsvoll durch den „Zeittempel“ läuft, vorbei an den „Phantasieuhren“, welche die Autorin Marie von Ebner-Eschenbach sammelte. „Man finde überall“ – lässt er den Uhrenkenner sprechen, der eine dieser Uhren „in den Handschuhen hält“ – man finde überall „einen verborgenen Knopf, den man drücken müsse… Ein Deckel springe dann auf, und man könne die Zeit ablesen.“ Und während Roth von diesen Führungen stets im sanft trabenden Konjunktiv erzählt, passiert etwas ganz Wunderbares: Die Menschen selbst, jene Wissensspeicher aus Museen und Instituten oder deren Bewohner, treten aus den Texten als manifeste Figuren hervor – selten befragt, obwohl sie doch so viel Spannendes zu erzählen haben. Dann ziehen sie sich wieder in ihre Archive, Schädelgänge, einsamen Labore oder Schulräume zurück.

Gerhard Roth, das erklärt er immer gerne, ist ein Liebhaber von Zeichen. In Wien nun macht er jenseits der allgemeinen Touristenströme seine ganz eigenen Wundertruhen auf und zoomt sich vom Großen zum Kleinen, vom Meteoriteneinschlag in rasanter Erzählgeschwindigkeit herunter zum niedersten Insekt, so ausdauernd, bis man meint, man halte die Ührchen und Würmchen selbst in den Händen. Am Ende, nach weiteren Besuchen in den Kunstkammern der Habsburger, dem Blindeninstitut, dem Bundes-Gehörloseninstitut oder dem Flüchtlingslager Traiskirchen, meint man, selbst Wahrnehmungsübungen unterschiedlichster Art mitgemacht zu haben. Und manchmal macht sich dann das typische Gerhard-Roth-Gefühl breit, das einen überall nach Bedeutung suchen lässt. Roth selbst konstruiert aus den Mauerflecken seines Hauses oder der Beobachtung Wiener Krähen seine persönliche Stadtkarte der österreichischen Hauptstadt. Und stellt – das ist seine größte Kunst – Fakten selbsterklärend nebeneinander, bis sich in seinen scheinbar unbehauenen Essays die Zusammenhänge dann wie von selbst ergeben.

Was also ist Roths Wien-Buch? Ein Lexikon ohne Register, eine Fundgrube für abgebrühte Wienkenner? Dies alles, aber eben auch mehr – denn Roth hinterlässt selbst wieder Spuren. Man mag das postmodernes Erzählen nennen – tatsächlich legt Roth ja gewissermaßen Wiens Wurzelgeflechte frei. Oder man sieht in seinem Buch einen Erlebnisparcour ohne Versicherungsschein – denn es kann sein, dass die Leser am Ende dieser Textsammlung wie abgefütterte Schüler hilflos unter dem Ballast der Fakten zusammenbrechen. Wer das aber aushält, wird auf jeder Seite reich belohnt. Der Echoraum, den diese großartigen Rundgänge bisweilen entfachen, kann dann gewaltig hallen.

Gerhard Roth: Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien. Frankfurt a.M., S. Fischer Verlag, 550 Seiten, 20,95 €.

Erschienen in der Frankfurter Rundschau, 2009