Zeruya Shalev: Schmerz

Seit ihrem ersten Roman „Liebesleben“ (2000) gilt die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev als Spezialistin für die ambivalente Abhängigkeit, die Gefühle und Triebe verursachen können. Die Geschichte über eine junge Frau, die sich fast devot einem älteren Mann hingibt und in der Beziehung verliert, ist in eben jenem manischen Gedankenrausch verfasst, der weitere Romane prägte – jetzt auch den neuen Roman „Schmerz“. Ein punktarmer, geschmeidiger, fließender Stil, der verstört, ärgert, fasziniert – aber selten kalt lässt. Die Erzählstimme ist diesmal ganz bei Iris, einer verheirateten Frau, erfolgreiche Schuldirektorin und Mutter zweier schon fast erwachsener Kinder. Omer, der jüngere, fröhlichere, geht noch zur Schule. Alma, die ältere, verschlossenere Tochter, ist gerade ausgezogen. Zum Ehemann Micki gibt es kaum mehr zärtlichen Kontakt. Die Familie hat sich verändert, seitdem Iris vor zehn Jahren bei einem Terroranschlag verletzt wurde.

Die Vergangenheit rauscht in diese bald atemlos gelebte Gegenwart mit schweren Brocken ungelöster Schuld; eine Lawine, die in Fahrt gerät, als Iris ihre alte Liebe Eikan wiedertrifft: Er ist ihr neuer Therapeut, eine Koryphäe auf dem Gebiet Schmerz. Von ihm gerettet zu werden, liegt so nah wie in einem Arztroman. Und tatsächlich hat auch Eikan eigentlich Iris immer geliebt, obwohl er den Schlussstrich zog. Eine neue Chance? Sie speichert ihn im Handy unter dem Stichwort „Schmerz“ ab, in der vagen Hoffnung, dass der, welcher Schmerz in der Liebe säte, ihn auch wieder wegzaubern kann. Unter hohem Grippefieber wachsen die „Ehebruchsbazillen“ ungehemmt und choreografieren im Erostakt die erste Romanhälfte. Doch Iris befindet sich mit ihrer geheim gehaltenen Affäre nicht nur auf einem Selbstverwirklichungstrip, sondern auf einer erschütternden Reise in die Vergangenheit: Damals war sie die unterstützende Freundin an Eikans Seite, als dessen Mutter starb. Weil Eikan die dunkle Zeit mit Iris verband, beendete er anschließend die Beziehung, „wie man vor dem Todesengel flieht“. Lässt sich darauf aufbauen?

Die dramatische Zuspitzung und Zusammenführung dieser Erzählstränge ist einer der vielen Gründe dafür, dass man den Roman nicht mehr aus der Hand legen kann. Mit zügellosen Assoziations- und Interpretationsketten wühlt er sich aus Iris‘ marterndem Gedankenkarussel heraus und stellt dabei die großen Lebensfragen. Was steht ihr zu – als Frau, als Mutter, als Mensch? Worauf soll sie verzichten, für was büßen? Oder einfach greifen nach dem zentralen Baustein, nach Eikan, um den sich ein neues Lebensgerüst aufbauen ließe? Denn vielleicht war ihr Leben mit Micki von Anfang an falsch.

Die religionsgeschichtliche Dimension dieser schicksalsträchtigen und eben deshalb völlig unkitschigen Beziehungsverschiebungen ist immens. Tora- und Bibelkundig, würde man einige Leitmotive entschlüsseln können. Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren und studierte Bibelwissenschaftlerin, bespielt uralte Themen in diesem großen Roman, an dem sie vier Jahre arbeitete. Wie ein schwerer Bass zieht sich beispielsweise das Motiv der Opferung durch diese Geschichte. Während die Mutter sich leidenschaftlich freiliebt, öffnet sich der Blick immer mal kurz auf die Tochter Alma. Sie scheint in der Stadt, wo sie wohnt, nicht in guter Gesellschaft, vielleicht gar in den Fängen einer Sekte. Die Gewalt hat sich bis in die Beziehungen hineingeschlichen. Sie ist lesbar als Echo auf das Land Israel, auch als Echo sicherlich der eigenen Erfahrung, die Zeruya Shalev im Januar 2004 machen musste, als sie selbst Opfer eines Attentats wurde. Die Gewalt bleibt aber auch erkennbar als grundsätzliches Nebenprodukt ernsthaft gelebter Beziehungen: Wo zu viel Nähe ist, keimt sie lautlos heran. Doch wie Iris, diese suchende, ruhelose Frau, ist auch Alma blind für das ihr zugefügte Leid. Mutter und Tochter, obwohl so verschieden, scheinen einander spiegelbildlich gebaut.

Wie eine Künstlerin übersetzt Shalev diese von allen Seiten sich heranschiebende Düsternis mit großer Weitsicht in kleinste, unscheinbare Handlungen. Eine der wichtigsten Szenen und der erste Streit zwischen Eikan und Iris handelt vom Essen. Iris ist Vegetarierin. Eikan schiebt ihr dennoch per Kuss ein Fleischstück in den Mund, an dem sie würgt, obwohl sie zuvor noch in Erinnerungen schwelgte, wie sie ihre Tochter Alma als Baby fütterte. Das Nährende und Vernichtende, Liebe und Tod, Zärtlichkeit und Übergriffe sind jederzeit als Gegensatzpaare greifbar. In welche Richtung es jeweils kippt, macht die Grundspannung des Romans aus. Und man kann am Ende lange darüber diskutieren, ob hier ein biblisches Drama entfaltet wird oder doch eher eine Bilanz. Weder die eine noch die andere Lesart minderte die obsessive Wucht, mit der hier Themen und Fäden feinst gesponnen und auserzählt werden. Während immer fast zu spät rettende Maßnahmen erdacht werden, lässt sich die Herkunft des Leids bis zu den Wurzeln zurückverfolgen, so, als läge ein großer Fluch auf dem Land, das auch Töchter wie Alma zur Armee schickt. Verlor sie dort ihren Sinn für Freiheit? Entlastend wirken Spekulationen dieser Art immer nur für kurze Zeit. Dann nagt wieder das eigene Gewissen. Und es ist schließlich niemand anderes als Omer, der Sohn, auf den die Armee noch wartet, der klare, deutliche Sätze ohne Wenn und Aber sagt; Erkenntnisse wie von weit her: „Unsere Familie löst sich auf, oder?“.

In einem Interview erklärte die Autorin, warum in ihren Romanen kein Glück von Dauer ist. „Glück ist für Kinder. Erwachsene können nicht wirklich glücklich sein. Sie können für Momente glücklich sein.“ Die Abgründe, die sich danach eröffnen, sind maßlos und tief. Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende bekanntlich auch. Je nachdem, wie man es schließlich definiert. Die vielen Fragen und möglichen Antworten machen diesen neuen Roman Zeruya Shalevs zu einem großen, emotionalen Abenteuer.

Zeruya Shalev: Schmerz. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag, Berlin 2015, 320 Seiten, 24 Euro.

erschienen in der STUTTGARTER ZEITUNG, 2015