John Berger: Mit Hoffnung zwischen den Zähnen

Buchrezension, WDR 3, Mosaik, Redakteur: Adrian Winkler, Autorin: Anja Hirsch

 

Anmoderation:

Ein Bild ist nicht nur ein Bild. Jedenfalls nicht, wenn der englische Schriftsteller und Kunsttheoretiker John Berger es in Augenschein nimmt. Seine intimen Beschreibungen von Fotografien, Gemälden, von Lebens-Szenen sind Legende. Und sie gehen immer weit über ihren Gegenstand hinaus. Schon früh hat den Friedensaktivisten John Berger dabei stets auch die große Weltpolitik bekümmert: Seinen Beruf als Maler und Zeichenlehrer vernachlässigte er Anfang der 50er, weil er öffentlich Widerstand leisten wollte – als Journalist, der über die nukleare Bedrohung aufklärt. Als er 1972 für seinen experimentellen Roman „G.“ überraschend den Booker Price gewann, sorgte er für einen Skandal, weil er die Hälfte des Preisgeldes an die umstrittene afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung „Black Panther Group“ spendete. Er verließ London und zog in ein kleines französisches Bergdorf in die rauhe Savoyer Landschaft. Von dort meldete sich der heute 81-Jährige immer wieder zu Wort – zuletzt im Dezember 2006 mit einem Boykott-Aufruf gegen die Besatzungspolitik Israels, der auf Störung im Bereich Kultur und Wissenschaft abzielte. Über 80 Künstler wie der Musiker Brian Eno, die Schriftstellerin Arundhati Roy unterstützten diesen Aufruf, der auch auf Kritik stieß. Jetzt kann man in einem neuen Essayband Bergers „Berichte von Überleben und Widerstand“ nachlesen. „Mit Hoffnung zwischen den Zähnen“ heißt der im Wagenbach Verlag erschienene Band, den Anja Hirsch vorstellt.

 

Rezensentin:

Zunächst einmal klagt John Berger global an: den Konsum, den Luxus, die ökonomische wie militärische Tyrannei; und das Schweigen, mit dem der Westen die Konflikte der Welt bemäntelt. Bergers Blick ist aber keineswegs der eines Pessimisten, der das Handwerk der Bauern, das einfache Leben in seinem französischen Bergdorf schätzt und wenig anderes. Seine Betrachtungen fügen sich nicht zur Litanei. Bergers Kritik an den Verhältnissen bildet nur den Anstoß dieser Essays, deren wichtigste Prämisse wohl diese wäre: Es gibt keine Freiheit ohne Handeln. Unpolitisch zu leben ist praktisch unmöglich und schreiben per se, wenigstens bei Berger, über viele Umwege nicht zuletzt auch ein politisches Schreiben. Deshalb ist es geradezu zwingend, dass ein Schriftsteller wie er seinen Blick in den Untergrund, den Widerstand lenkt. Dorthin also, wo Menschen aus der Sehnsucht nach Freiheit zum Handeln gezwungen sind. Und – weil Freiheit und Zwang schon immer ein seltsames Paar bilden – am Ende nur noch ums nackte Überleben kämpfen. Diese Extreme mutet Berger seinen Lesern zu wie sich selbst. Und das bedeutet: Auch die Verzweiflung des Terroristen interessiert ihn. Merkwürdig, dass man stutzt, weil diese Perspektive immer noch wie ein Tabu-Bruch wirkt. Wer aber Bergers Art, zu denken, verstehen will, wird den Schritt mitmachen müssen. Und sollte sich hüten, sofort mit Urteilen bei der Hand zu sein. Denn Berger, das ist seit je seine Stärke, bereitet seine Analysen als Geschichtenerzähler auf, dem keine Perspektive, auch nicht die dunkelste, fremd erscheint.

Flutende Fernsehbilder aus Nahost, denen man kaum mehr die nötige Aufmerksamkeit schenkt, bekommen in seinen klugen, mutigen Texten Kontur. In Standbildern beleuchtet Berger die toten Winkel der Welt.

 

Zitat:

In der schmalen Gasse eines Flüchtlingslagers kauern drei Jungen in einer Ecke am Boden und spielen Murmeln. Viele Flüchtlinge in diesem Lager stammen aus Haifa. Die Geschicklichkeit, mit der die Jungen eine Murmel mit dem Daumen schnippen, während ihr Körper unbeweglich bleibt, zeugt von der Vertrautheit mit sehr beengten Räumen.

 

Rezensentin:

Berger ergreift durchaus Partei und spricht vom „Würgegriff“ Israels. In Ramallah, Sitz der palästinensischen Autonomiebehörde hielt er sich eine Weile auf, um mit Kindern zu zeichnen. Viele seiner Beobachtungen und Schlussfolgerungen rühren von dort her. Einem schlichten Gut-Böse-Schema unterliegt Berger aber nicht. Denn es geht ihm in einem ganz wahrhaftigen Sinn um eine Form des Anteilnehmens, eine Empathiefähigkeit, die man nur mehr selten antrifft. Seine Ansichten, ein Zeitzeugentum, erzählen dabei nicht nur von heute, sondern auch von einer untergegangenen Welt.

 

Zitat:

Lange ist es her, da pflanzten frischverheiratete Paare in den Gärten Ramallahs Rosen als gutes Omen für eine gemeinsame Zukunft. Der Boden des Schwemmlands bekam Rosen.

Im Zentrum von Ramallah (…) gibt es heute keine Mauer, an der nicht die Bilder der Toten kleben – Fotos von ihnen, als sie noch am Leben waren, gedruckt als kleine Plakate.

 

Rezensentin:

Stets bewegt sich Berger in einem Terrain, wo ein Blick zu viel, ein überflüssiges Wort, den Eindruck dieser „Berichte“ ablenken und falsches Pathos hinterlassen würde. Das Faszinierende von Bergers Schaustücken aber ist, wie ihm dieser Drahtseilakt gelingt. Nie fühlt man sich als Voyeur, sondern sanft bei der Hand genommen von einem Erzähler, der unaufdringlich sagt: Hör zu! Was er dem großen Filmemacher Pier Paolo Pasolini, der 1975 ermordet wurde, in einem Gedenk-Text zuschreibt, gilt auch für ihn selbst:

 

Zitat:

Denn die Wirklichkeit ist das Einzige, was uns zu lieben bleibt. Etwas anderes haben wir nicht.

 

Rezensentin:

Aus diesem Untergrund, im ganz wörtlichen Sinn, aus Mauern, Steinen, Begegnungen, meißelt er wie ein Bildhauer seine stillen Beobachtungsstücke. Sie sind, weil sie immer nah am Wirklichen bleiben, deshalb auf den ersten Blick nicht metaphysisch. Und doch verweisen sie auf etwas, das hinter den abgenutzten Begriffen liegt. Vielleicht auch auf etwas Höheres. Berger gibt den Menschen ihre Würde zurück, ohne sich dabei selbst in den Vordergrund zu spielen.

 

Zitat:

In den Ruinen von Kabul sehe ich einen Mann nach Hause gehen, und ich weiß, dass trotz des Schmerzes die Findigkeit der Überlebenden ungebrochen ist. Es ist die Findigkeit des Herumstöberns und Kräftesammelns; und in der List dieser unerschöpflichen Findigkeit liegt ein spiritueller Wert, so etwas wie der Heilige Geist. Davon bin ich überzeugt inmitten dieses Dunkels, auch wenn ich nicht weiß, warum.

 

Rezensentin:

Der Band „Mit Hoffnung zwischen den Zähnen“, den Rita Seuß aus dem Englischen mit musikalischem Sprachgefühl übersetzt hat, versammelt Texte aus den vergangenen acht Jahren. Sie handeln vom Anschlag auf die Londoner U-Bahn vor dem G8-Treffen, vom Wüten des Hurrican Katrina, vom Sturz Saddam Husseins, vom Lebensweg einer alten Russin, die nach der Schlacht um Kursk entschied, Ärztin zu werden. Sie erzählen von der Trauer über den Tod eines Freundes und von der Ermordung eines anderen. Berger erhebt seine Stimme für politische Opfer, für die Menschen, die zum Schweigen gebracht wurden. Er gibt dem Blick von unten Raum, weil er weiß: „Die Mächtigen können keine Geschichten erzählen: Prahlereien sind alles andere, nur keine Geschichten.“ Dass er dabei eben nicht nur erzählt, sondern als Teilnehmender dieser Zeitgeschichte in ihr „liest“ und Missstände beim Namen nennt, auch wenn er manches zwangsläufig vereinfachen muss, macht diese Texte zu Fundgruben. Mit offenen, provozierenden, verletzlichen Stellen, wohl wahr – aber gerade darum geht es: Sie laden zum Weiterdenken, zum Recherchieren, zum Umdenken ein, weil sie nie prahlerisch sind, sondern Kunde von der Scham geben, Mensch zu sein und nicht sein zu dürfen. In diesem Sinne sind sie existentiell, wie viele frühere Arbeiten des Autors. Hinter verschleiernden Begriffen zeigt John Berger die Welt – seine Welt, die auch die unsere ist, wenn wir nur genau hinschauen würden.

 

 

Abmoderation:

John Berger: Mit Hoffnung zwischen den Zähnen. Berichte von Überleben und Widerstand. Aus dem Englischen von Rita Seuß. Wagenbach Verlag, Berlin 2008, 144 Seiten, 15,90 €.

Das englische Original erschien mit einer leicht veränderten Textauswahl 2007 unter dem Titel „Hold Everything Dear. Dispatches On Survival And Resistance“.

 

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