Edmund de Waal: Scherben machen glücklich

Edmund deWaal

Edmund de Waal, Keramikkünstler und Autor, lädt zu einer Reise durch die Geschichte des Porzellans.

 

Eines vorweg: Eine Porzellan-Teeschale wird man nach diesem Buch mit Anmut benutzen – sofern man es nicht schon tut. Man fühlt und würdigt die Herkunft des über tausend Jahre alten Materials. Dessen Geschichte erzählt hier ein Fachmann: Der britische Keramiker Edmund de Waal. Seine kunstvollen Objekte stehen in Museen. Als Dozent an der University of Westminster in London ist ihm die Weitergabe des Wissens ein Anliegen. In seinem neuen Buch „Die weisse Strasse“ reist er auf den Spuren seiner Leidenschaft bis nach China und zurück zu Orten in Sachsen und Cornwall.
Dass er spannend und bildstark schreiben kann, hat er bereits in seinem erfolgreichen Roman „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ (2011) über die bewegte Geschichte seiner Familie Ephrussi bewiesen. Diese Achtsamkeit im Umgang mit Worten zeichnet auch jetzt seinen Stil aus. Unterhaltsames, etwa dass „porcellani“, der Spitzname der Kaurimuscheln, einst von venezianischen Jungs hübschen Mädchen hinterhergerufen wurde, verbindet sich mit Beschreibungen des Handwerks und seiner meditativen Komponente. Die Drehscheibe war bereits für den fünfjährigen Edmund de Waal in Canterbury „ein Versuch, einen kleinen Teil der Welt zur Ruhe kommen zu lassen“. Die Farbe Weiss spielt in seinem Werk eine grosse Rolle. Warum – das will er verstehen. Das „Arkanum“, das Geheimnis um das Rezept lockt ihn, jenen Glücksstoff zu erkunden, den Keramiker den „Scherben“ nennen.
Der venezianische Händler und Weltreisende Marco Polo erwähnte 1291 erstmals im Westen Porzellanschalen. 500 Jahre lang wusste niemand, was das eigentlich ist. Ein „Saft, der unter der Erde aushärtet“, wie ein italienischer Astrologe im 16. Jahrhundert spekulierte? Oder eine Mischung aus Eierschalen und Schnecken? Manche sprachen gar davon, dass das „weisse Gold“ aus geheimnisvollen Hügeln stammt, die bis zu vierzig Jahre ruhen müssen. Das Material, das in Formen gegossen oder beim Drehen unter Meisterhänden dünner und dünner werden kann, „wie Blattgold“, das „in die Luft emporflattert“, sauber und weiss, ist tatsächlich ein zauberhafter Stoff: „Es ist leicht, wo die meisten Dinge schwer sind. Es ist hell, wenn man daran klopft. Man kann das Sonnenlicht durchscheinen sehen.“ Wer wäre da nicht besessen?
Porzellan besteht vorwiegend aus zwei verschiedenen Mineralien. Aus Feldspaat, dem „Fleisch“. Und aus Kaolin, der Porzellanerde, dem „Knochen“. Es wird bei grosser Hitze gebrannt. Zu verstehen, warum diese Verbindung das aushält, ist Antrieb für de Waals Recherchereise. Antworten und „Gralsmomente“ findet er auf verlassenen Abbruchhalden in China. Oder an Flüssen, wo früher die Kaolinerde vom Berg auf Bambusflüssen die Wasserwege hinuntergesteuert wurde. Und natürlich in Jingdezhen, seit 1700 Jahren chinesische Hauptstadt des Porzellan. Einst arbeiteten hier Mischer, Mahler, Korbflechter bis hin zu „Aschenmänner“ und den Wachen der kaiserlichen Manufaktur. Es gab Arme oder Blinde, die ihr Leben damit zubrachten, Farbpigmente zu zerstampfen. Alte Listen verzeichnen 23 unterschiedliche Berufe.
Es sind solche kleinen Informationen am Rand, welche die Welt des Porzellans aus Stollen und Städten auch für Laien auferstehen lassen. Wie schon in de Waals Roman, für den eine Sammlung kostbarer, japanischer Miniaturanhänger, sogenannter „Netsuke“, Impulsgeber war, werden auch hier Objekte zu Geheimnisträgern. Der Autor als Entdecker – das ist eine gewinnbringende Erzählperspektive. Edmund de Waal doziert nicht, sondern gibt einem die Stücke in die Hand und lässt fühlen; zum Beispiel die übermässige Bauchung eines alten Porzellangefässes. Dahinter verstecken sich Geschichten, die das Verlorene bergen. Das Pathos, das manchmal mitschwingt, ist da genau richtig am Platz.

 

erschienen in der NZZ am Sonntag, 2016