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Mai 13 22

Die Kunst, sich wundern zu können

Anja Hirsch

ein Nachwort zu Gesprächen mit Wilhelm Genazino aus den Jahren 2006/7
in Schreibheft – Zeitschrift für Literatur, März – Mai 2020, hg. von Norbert Wehr, S. 83-127

„Kein Mensch ist darauf gefaßt, daß er sich selbst ein ganzes Leben lang nahe sein wird.“ Mit diesem Satz, in dem kindliches Erstaunen und anhaltender Schrecken gleichermaßen mitschwingen, eröffnet Wilhelm Genazino 2006 einen Vortrag, den er auf Einladung vor Psychoanalytikern hielt. Von diesem Publikum geschätzt worden zu sein, spricht für das
psychologische und soziologische Wissen eines Schriftstellers und Essayisten, der in seinem Werk unverblümt die Abgründe menschlicher Existenz ausleuchtet.
Kulisse dafür ist die Stadt mit ihren Kontrasten. In diesem Revier läßt Genazino seine Figuren Beobachtungen machen. Allem gewinnen sie Bedeutungen ab oder entblößen Verstecktes, Menschliches. Anfangs bewegen sie sich in engen Bahnen wie der Angestellte Abschaffel in der gleichnamigen Trilogie. In späteren Romanen und Berufen (Schuhtester, Apokalyptiker) tänzeln sie mit großer Leichtigkeit, wenngleich auch hier immer spürbar nah am Abgrund. Mal überwiegt die Resignation, mal das Bezaubertsein. Sie sind Urheber und zugleich Gefangene ihrer eigenen „unablässig tätigen Zurechtfindungsmaschine“. Daß
sie altmodisch wirken, fast so, als lebten sie immer noch in den 50er Jahren, ist dabei kaum verwunderlich. Es ist die Zeit, die Genazino selbst am meisten geprägt hat.

Ich lernte Wilhelm Genazino durch meine Doktorarbeit kennen und führte 2001 erste Interviews mit ihm. 2006, die Arbeit war gerade erschienen, folgten die hier erstmals veröffentlichten Gespräche mit der vagen, letztlich nicht verwirklichten Idee, sie für eine Biographie zu nutzen. Für Genazino war es die Zeit des Erfolgs, der 2004 mit der hymnischen Besprechung des Romans Ein Regenschirm für diesen Tag im „Literarischen Quartett“ eingesetzt hatte. Im selben Jahr erhielt er den Georg-Büchner-Preis, drei Jahre später den Kleist-Preis. Pflichtschuldigst und mit einem gewaltigem Pensum an Lesungen diente er jedem neuen Buch. Sein Staunen über den Erfolg minderte jedoch nie die Angst vor dem Scheitern. Er wußte genau: Das Blatt könnte sich wenden. Das hatte er bei seinem eigenen Vater gesehen. Oft schrieb er darüber – wie über vieles andere, an das er sich in unseren Gesprächen erinnert. Die „Panik der nie richtig erzählten Geschichte“, die immer wieder neu erzählt werden muß, trieb ihn um und an. Er erzählte aber nicht gegen, sondern mit ihr – vielleicht selten so zwingend wie hier vor dem Hintergrund der Frage: Wie wird einer, was er ist?

Darauf geben die Gespräche mögliche Antworten. Zugunsten der Lesbarkeit wurden die Mitschriften gestrafft und geordnet, Hauptthemen zusammengeführt, unterbrechende Fragen gestrichen. Zentrale Motive der frühen Biographie rücken so enger zusammen und zeigen eine Entwicklung. Das vorangestellte Zitat mag bewußt machen, daß diese biographische Selbsterzählung kaum mehr sein kann als ein Findungsprozeß, möglicherweise auch eine Erfindung. Hinter manches darf man ruhig ein Fragezeichen stellen. Daß Erinnern und Erfinden absichtslos ineinander übergehen, wußte kaum jemand besser als Wilhelm Genazino selbst.
Wer ihn privat oder am Rande von Lesungen erlebt hat, dem steht er beim Lesen der Gespräche mit seinem ganzen Temperament sofort vor Augen. Wie herzhaft er lachte! Wie grandios er sich über etwas wundern konnte! Er wunderte sich zum Beispiel über Rucksäcke und was die Menschen alles mit
sich herumschleppen. Er wunderte sich über „gemächliche, amerikanische Mittelwestromane“ oder darüber, daß Kultur aus Mangel entsteht.
Mehr als über die „Gesamtmerkwürdigkeit“ allen Lebens wunderte sich Genazino aber über sich selbst: über dieses „Kind stiller Nachkriegseltern“ und den kaum Erwachsenen, der mit großer Geste seinen ersten Roman anbietet, ohne zu merken, daß der Text „vollkommen redundant“ ist und der Erzähler „wie ein Kleinkind, das nur drei Sätze kann“, die Klage über die Kommunikationslosigkeit der Eltern ständig wiederholt. Dazu sein Mienenspiel, das kritische Augenbrauen-Hochziehen, die leise Selbstironie, die unvermittelt kippte – in Empathie, die wiederum von Scham begleitet war, über deren Andauern er sich ebenfalls nicht genug wundern konnte.

Die langen Pausen zwischen manchen Sätzen muten an, als müßte er dem Gesagten nachhören, um sich selbst verstehen zu können. Die Momente des Stockens erwecken den Eindruck, daß hier jemand nicht Herr über seine eigene Geschichte sein könnte. Es reicht eben vielleicht doch nicht, sie reflektiert zu haben. Die Umwälzung dieses Materials durch Schreiben, das „Einkörpern“, das bestenfalls zum Annehmen der Lebensumstände führt, bändigte bei weitem nicht alles.

Literatur sei „der Versuch, mit einem Schmerz zu sprechen“, schreibt Wilhelm Genazino in seinem Essay „Der gedehnte Blick“. Für seine eigene Prosa gilt das ganz besonders. Um mit einem Schmerz sprechen zu können, braucht es Abstand, den Blick eines am Rande Stehenden. Unkenntlich und verborgen, aus Häuserwinkeln und Passagen, sammelt Genazinos Spiel- und Spiegelfigur, jener fast austauschbare, bis auf eine Ausnahme immer männliche Erzähler aller Romane, Wahrnehmungen, als müsse er Sozialstudien betreiben. Zu nah herankommen an Menschen und Situationen darf er dabei nicht, sonst sieht er unscharf oder Ungewolltes. Zu weit sich entfernen aber auch nicht, sonst droht ihm Vereinzelung, gar Irrewerden. Das
Unglück ist das der Figur. Ebenso das Glück, das sich in pointierten Wortschöpfungen mitteilt.
Die beständige Analyse von Scham- und Schuldgefühlen führt ins Mark jener bundesrepublikanischen Gesellschaft, die im Nachkrieg zu schnell vergessen wollte und sich allzu gern ablenken ließ. Genazino diagnostiziert eine alles lähmende Trägheit bei gleichzeitiger Überaufgeregtheit, die oft genug ins Leere läuft.
Am deutlichsten hat er dies in seinem Roman Mittelmäßiges Heimweh entfaltet, in dem der Protagonist gleich zu Beginn ein Ohr verliert, später noch einen kleinen Zeh. Das Ungeheuerliche ist, daß kaum jemand dies registriert. Das Katastrophengefühl bleibt ein ganz privates und muß auch privat verarbeitet werden. Das Maß des Abstands entscheidet darüber, ob das Wahrgenommene beruhigt oder bedroht. Ein unglaublicher Balanceakt ist das, den zu beherrschen mit den Jahren und Romanen den Protagonisten immer schwerer zu fallen scheint. Sie werden dünnhäutiger. Immer weniger vermögen sie ihre Eindrücke zu sublimieren. Und als im letzten Roman Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze die bekannten Motive in einer Rasantheit einander abwechseln, daß einem fast schwindlig wird, weiß man nicht mehr: Ist das manisch? Oder radikal?

Abstand zu gewinnen versuchte auch Genazino selbst. In seinen Essays legte er Schmerz und Melancholie und all diese Affekte auf den Seziertisch. Um sie zu verstehen, untersuchte er ihre Abwehrmechanismen: „Verdrehen, Vergessen, Vergehen, Verschmerzen“, so lautet der Titel seines
Vortrags vor den Psychoanalytikern. Und wer etwa eine Erklärung von ihm wünschte, was ein Trauma für den Traumatisierten bedeutet, dem zeichnete er mit dem Finger die Form einer Ellipse in die Luft: Auf einer solchen Umlaufbahn bewege sich der Traumatisierte um die große Wunde herum. Mal
sei er der Wunde so nah, daß es nicht auszuhalten sei; mal so weit davon entfernt, daß die Wunde zu verschwinden scheine.
Ob so einer wie er, mit seiner Freude an blitzlichtartig auftretendem Schönen, so etwas wie eine Vorstellung von Transzendenz hatte? Eine Antwort versuchte ich ihm zumindest zu entlocken. Wer so oft von der „universellen Unerlöstheit“ schrieb, würde sich freilich nicht festlegen. Immerhin beschrieb er aber einen Ort: Er stehe wohl irgendwo zwischen Erstarrung und Erlösung. Genau in der Mitte. Denn: Beides tritt nicht ein. „Sondern es kommt der nächste Tag.“
Dieser Satz ist sicherlich der schlichteste in der Sammlung großartiger Genazino-Sätze. Aber gerade deshalb, nach seinem Tod im Dezember 2018, vielleicht auch der tröstlichste.

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Okt 30 09

Wilhelm Genazino: Die Angst war überflüssig

Claus Brunsmann

Anja Hirsch (Frankfurter Rundschau) im Gespräch mit Wilhelm Genazino.

Interview

Alles wie immer? Der Angestellte und Frankfurt-Flaneur Dieter Rotmund ist ein typischer Genazino-Held: durchschnittlich melancholisch, aber gefasst – selbst dann noch, als seine Frau ihm gesteht, sie könne seine Stimme nicht mehr hören. „Mittelmäßiges Heimweh“, der neue Roman des Büchnerpreisträgers von 2004, handelt wieder einmal vom Innenleben eines Mittelmäßigen. Aber eines ist diesmal anders: Es lösen sich Körperteile von ihren Besitzern, und seltsamerweise scheint das lange keiner zu bemerken.

Frankfurter Rundschau: In Ihrem neuen Roman Mittelmäßiges Heimweh fällt einem Mann ein Ohr ab, später ein kleiner Zeh. Wie nehmen denn Ihre Leser das auf?

Wilhelm Genazino: Ich bin irritiert und auch beruhigt, dass sehr vielen Lesern, mit denen ich bis jetzt schon gesprochen habe, das Gefühl, dass sie zuweilen ein Körperteil verlieren, dermaßen vertraut ist, dass man es ihnen nicht erklären muss. Der Leser nimmt die Sache als Gefühl auf. Er ist klüger als der bloß den Realismus verfolgende Theoretiker, der immer gleich erklärt haben möchte: Wie soll man das denn jetzt verstehen?

Die Psychoanalytiker würden sagen: Klarer Fall von Kastrationsangst.

Und damit wäre der Fall auch schon erledigt. Diese Lesart greift mir doch entschieden zu kurz.

Nietzsche schrieb: „Das Ohr ist das Organ der Furcht.“ Warum muss sich Ihr Ich-Erzähler gerade vom Ohr verabschieden?

Ein schöner Satz – aber das hatte bei mir schlicht praktische Gründe: Das Körperteil musste klein sein. Sein Verschwinden durfte nicht übermäßig auffallen.

Offenbar fällt es auch nicht auf, jedenfalls fragt niemand nach dem Ohr.

Ja, das fehlende Ohr – die Katastrophe – wird sofort Alltag. Ähnliches macht man ja etwa mit einer Reportage über ein Erdbeben – die Menschen entfernen es in irgendeine traumartige Weite, die von ihrem realen Leben ganz weit entfernt ist.

Würde es Ihren Helden beruhigen, wenn man ihn auf sein fehlendes Ohr anspräche?

Das wäre Temperamentssache. In meinem Bekanntenkreis gibt es Menschen, die unter bestimmten Einschränkungen leiden. Und die wollen darauf angesprochen werden, damit sie selber darüber sprechen können. Es gibt ihnen dann eine gewisse Genugtuung, auch ein Leidensdarsteller zu sein. Aber es gibt ebenso viele Beispiele für die andere Sorte von Menschen, die darauf nicht angesprochen werden wollen. Es wurde ihnen selber überdrüssig, sich mit einem Leid zu profilieren.

Es irritiert aber doch, dass alle sich ganz schnell an diese Ohrklappe gewöhnen, die der Mann da mit sich herumträgt.

Ja, aber er selbst sieht das nicht. Er meint: Alle anderen beobachten ihn. Alle fordern Erklärungen von ihm. Und er will ununterbrochen wissen: Ist denn eine neue Weltseuche im Ankommen? Läuft die Apokalypse, ist sie jetzt endgültig angebrochen?

Und – ist sie? Er scheint ja nicht der Einzige zu sein, dem Körperteile abfallen. Man denkt sofort an das Jüngste Gericht. Ist das impliziert?

Das kommt auf den Echoraum an, den der Leser für sich öffnet. Es ist völlig richtig, dass in den Religionsgeschichten die Gottesstrafe vor Seuchenmaßnahmen nicht zurückschreckt. Selbst die menschlichen Gerichte haben diese apokalyptischen Strafen für sich eingeführt. Denken wir an die im Mittelalter noch praktizierten Strafen, dass ein Gericht einem Dieb die Hand abhackte. Das ist auch ein Körperteilverlust, und zwar einer, der als Strafe verhängt ist.

In Ihrem letzten Roman, Die Liebesblödigkeit (2005), gibt der Held Seminare über die Apokalypse. Jetzt ist sie eingetreten. Mittelmäßiges Heimweh – ein Fortsetzungsroman?

Man kann das als Anwendung der Theorie lesen, es wäre mir aber zu eindimensional. Dass irgend etwas verseucht ist, das ist ja in unserer Gesellschaft längst eingedrungen. Mal ist es das Wasser, mal das Fleisch, mal das Blut. Wir sind ja alle gewiefte Apokalyptiker. Die plötzlich eindringende Seuche ist ein Modell, das sowohl für die Literatur gilt als auch für die eingetretene Wirklichkeit.

Ihr Held wird trotzdem Finanzchef. Kann sein Schrecken mit niemandem mehr geteilt werden?

Es kommt darauf an, zu sehen, dass die ganze Sorge, ob man ihm seine Beschädigung ansieht oder nicht, ihrerseits längst vergesellschaftet ist. Alle anderen wissen, dass sie selbst auch einsam sind. Aber alle anderen haben sich längst darüber verständigt, dass man sich darüber nicht mehr besonders aufregen muss. Nach Lage der Dinge ist das unser Schicksal. Nur der Einzelne, der das nicht weiß, denkt, er sei eine Ausnahme. Das, wovon er glaubt, es sei eine individuelle Befindlichkeit, ist als individuelle Befindlichkeit längst vergesellschaftet. In Wahrheit hat man seine Isolationsgefühle längst für ihn mitgedacht.

Seine Angst, nun auch beruflich geächtet zu werden, war also im Grunde überflüssig?

Ja, das ist besonders merkwürdig: Seine ganze Angst war vergeblich. Das erinnert an den großartigen Satz von Kafka, der mir jetzt einfällt, über seine Angst: dass die ganzen Ängste, die er hatte, möglicherweise völlig überflüssig waren.

In Ihren Büchern wimmelt es von sogenannten Randfiguren der Gesellschaft, doch sie kommen selten selbst zu Wort. Wird es einmal einen Roman aus der Sicht eines Obdachlosen geben?

In meinen Augen ist der Controller ohne Ohr eine Nebenfigur. Er ist eine Dutzend-Erscheinung, ein Nobody, ein Angestellter, der seinen Arbeitstag hinter sich bringt.

Aber eine Dutzend-Erscheinung sagt nicht Sätze wie: „Die ruhige Betrachtung unfähiger Menschen bringt Versöhnung hervor.“

Man muss dem Text zugute halten, dass er offen hält, von wem der Satz kommt. Genau genommen wird hier ein Satz eingeschmuggelt, der offen lässt: Wer sagt ihn eigentlich? Insofern macht der Schriftsteller von einem alten Trick Gebrauch, dass nämlich derartig bedeutsame Sätze völlig herrenlos im Text herumschwimmen. Man kann sich den Kopf krummdenken, um herauszufinden: Wer soll das denn jetzt gesagt haben? Es gibt doch immer wieder diese herrenlos hereinströmende Bedeutsamkeit.

Ihr Buch hört eigentlich da auf, wo José Saramagos Buch Die Stadt der Blinden anfängt.

Nichts gegen den verehrten Kollegen Saramago, den ich sehr schätze. Aber ich wollte das nicht gesellschaftlich verhandelbar machen, weil ich dann gefürchtet hätte, in einer schlechten Science Fiction zu enden. Diese Art von gesellschaftlichem Realismus interessiert mich nicht. Mich interessiert das Subjekt und die Ratlosigkeit, wo es mit seiner Angst hin soll.

Mittelmäßiges Heimweh, 189 Seiten, 17,90 Euro, Carl-Hanser-Verlag.

Erscheinungsdatum 30.01.2007