Isa steckt in einer Ehekrise. Tief verletzt flüchtet sie an den Bodensee. Im Gepäck alte Briefe und Tagebücher ihrer rätselhaften Großmutter Dora. Um den Schmerz zu verdrängen, befasst sie sich mit deren Geschichte: Dora studierte in den 1920er Jahren zusammen mit dem Bergarbeitersohn Frantek und der extravaganten Maritz an der Kunstgewerbeschule in Essen, der heutigen Folkwangschule. Aus einer intensiven Freundschaft entsteht ein Liebesdreieck. Später heiratet Dora einen Verwaltungsdirektor der BASF. Gesprochen wurde darüber in Isas Familie kaum. Welche Rolle spielte Isas Großvater im Zweiten Weltkrieg? Und warum besuchte ihr Vater eine der berüchtigten Napola-Schulen? Je tiefer Isa in ihre Familiengeschichte vordringt, um so klarer wird ihr Blick auf Dora — und auf sich selbst.
»Anja Hirsch versteht es, ohne Pathos oder Sentimentalität, Zeit- und Familiengeschichte in deren Höhenflügen und Abstürzen lebensnah und spannungsvoll zu verdichten.« ― Frankfurter Allgemeine Zeitung, Lerke von Saalfeld
»Es zeichnet Anja Hirschs Roman aus, dass er nicht nur durch alle Zeitebenen hinweg die Spannung hält, sondern zugleich sich selbst und seinesgleichen hinterfragt.« ― Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Britta Heidemann
»ein zeitgeschichtliches Kleinod« ― mdr Kultur, Alexander Kühn
»Gleich mit ihrem ersten Roman gelang Anja Hirsch ein ganz großer Wurf.« ― Fränkische Nachrichten
»Solche Bücher brauchen wir.« ― Salzburger Nachrichten, Anton Thuswaldner
»Eine der großen Tugenden dieses bemerkenswerten Debüts besteht darin, dass Hirsch, obwohl sie die unterschiedlichsten narrativen Register zieht, längst nicht alles erzählt, schon gar nichts ‚auserzählt‘. Statt dessen klaffen immer wieder Leerstellen auf. Die ‚große‘ wie die ‚kleine‘ Geschichte folgen keiner simplen Mechanik.« ― Tageszeitung junge Welt, Werner Jung
»Ihre Ich-Erzählerin Isa spiegelt durchaus die eher journalistische Seite der Autorin, in Dora hingegen lebt sie ihre Fabulierlust aus.« ― Trailer Ruhr Magazin, Frank Schorneck
»Oft findet sie Formulierungen von knapper, prägnanter Schönheit: „Im Frühlingslicht dieses Aprilnachmittags im Jahr 1927 tanzte sogar der Staub.“« ― Westfälischer Anzeiger, Ralf Stiftel
»ein Roman über zwischenmenschliche Beziehungen, über Enttäuschung, über die Macht und Ohnmacht der Frauen früher und heute, und darüber wie man mit etwas Abstand die eigene Lebensgeschichte in anderen Farben erblicken kann.« ― Bozena Anna Badura, dasdebuet.com
»Zeitgeschichte trifft kluges Frauendrama« ― FÜR SIE
»Ein beeindruckendes Stück Zeitgeschichte über drei Generationen und ein ganzes Jahrhundert.« ― Radio Mülheim
»mit klugem Einfühlungsvermögen in die menschliche Psyche, breitem zeitgeschichtlichem Wissen und großer Liebe zum Detail aufbereitet« ― Kreisjahrbuch Unna, Thomas Horschler (01. Dezember 2021)
In eine fantastische Sprache eingebettet, verfolgte ich voller Spannung Isas und Doras Lebenswege. „Was von Dora blieb“ ist übrigens Anja Hirschs Debüt. Das fand ich überraschend, da ich es sprachlich wirklich überzeugend und ausgereift finde und nicht überrascht gewesen wäre, wenn sie schon weitere Bücher veröffentlicht gehabt hätte. ― Barbara H. Imruck, Bloggerin, aigantaigh.wordpress.com
„Was von Dora blieb“ – Buchreport Januar 2021
Roman, 340 Seiten
C. Bertelsmann Verlag
Erschienen am: 15. März 2021
ein Nachwort zu Gesprächen mit Wilhelm Genazino aus den Jahren 2006/7
in Schreibheft – Zeitschrift für Literatur, März – Mai 2020, hg. von Norbert Wehr, S. 83-127
„Kein Mensch ist darauf gefaßt, daß er sich selbst ein ganzes Leben lang nahe sein wird.“ Mit diesem Satz, in dem kindliches Erstaunen und anhaltender Schrecken gleichermaßen mitschwingen, eröffnet Wilhelm Genazino 2006 einen Vortrag, den er auf Einladung vor Psychoanalytikern hielt. Von diesem Publikum geschätzt worden zu sein, spricht für das
psychologische und soziologische Wissen eines Schriftstellers und Essayisten, der in seinem Werk unverblümt die Abgründe menschlicher Existenz ausleuchtet.
Kulisse dafür ist die Stadt mit ihren Kontrasten. In diesem Revier läßt Genazino seine Figuren Beobachtungen machen. Allem gewinnen sie Bedeutungen ab oder entblößen Verstecktes, Menschliches. Anfangs bewegen sie sich in engen Bahnen wie der Angestellte Abschaffel in der gleichnamigen Trilogie. In späteren Romanen und Berufen (Schuhtester, Apokalyptiker) tänzeln sie mit großer Leichtigkeit, wenngleich auch hier immer spürbar nah am Abgrund. Mal überwiegt die Resignation, mal das Bezaubertsein. Sie sind Urheber und zugleich Gefangene ihrer eigenen „unablässig tätigen Zurechtfindungsmaschine“. Daß
sie altmodisch wirken, fast so, als lebten sie immer noch in den 50er Jahren, ist dabei kaum verwunderlich. Es ist die Zeit, die Genazino selbst am meisten geprägt hat.
Ich lernte Wilhelm Genazino durch meine Doktorarbeit kennen und führte 2001 erste Interviews mit ihm. 2006, die Arbeit war gerade erschienen, folgten die hier erstmals veröffentlichten Gespräche mit der vagen, letztlich nicht verwirklichten Idee, sie für eine Biographie zu nutzen. Für Genazino war es die Zeit des Erfolgs, der 2004 mit der hymnischen Besprechung des Romans Ein Regenschirm für diesen Tag im „Literarischen Quartett“ eingesetzt hatte. Im selben Jahr erhielt er den Georg-Büchner-Preis, drei Jahre später den Kleist-Preis. Pflichtschuldigst und mit einem gewaltigem Pensum an Lesungen diente er jedem neuen Buch. Sein Staunen über den Erfolg minderte jedoch nie die Angst vor dem Scheitern. Er wußte genau: Das Blatt könnte sich wenden. Das hatte er bei seinem eigenen Vater gesehen. Oft schrieb er darüber – wie über vieles andere, an das er sich in unseren Gesprächen erinnert. Die „Panik der nie richtig erzählten Geschichte“, die immer wieder neu erzählt werden muß, trieb ihn um und an. Er erzählte aber nicht gegen, sondern mit ihr – vielleicht selten so zwingend wie hier vor dem Hintergrund der Frage: Wie wird einer, was er ist?
Darauf geben die Gespräche mögliche Antworten. Zugunsten der Lesbarkeit wurden die Mitschriften gestrafft und geordnet, Hauptthemen zusammengeführt, unterbrechende Fragen gestrichen. Zentrale Motive der frühen Biographie rücken so enger zusammen und zeigen eine Entwicklung. Das vorangestellte Zitat mag bewußt machen, daß diese biographische Selbsterzählung kaum mehr sein kann als ein Findungsprozeß, möglicherweise auch eine Erfindung. Hinter manches darf man ruhig ein Fragezeichen stellen. Daß Erinnern und Erfinden absichtslos ineinander übergehen, wußte kaum jemand besser als Wilhelm Genazino selbst.
Wer ihn privat oder am Rande von Lesungen erlebt hat, dem steht er beim Lesen der Gespräche mit seinem ganzen Temperament sofort vor Augen. Wie herzhaft er lachte! Wie grandios er sich über etwas wundern konnte! Er wunderte sich zum Beispiel über Rucksäcke und was die Menschen alles mit
sich herumschleppen. Er wunderte sich über „gemächliche, amerikanische Mittelwestromane“ oder darüber, daß Kultur aus Mangel entsteht.
Mehr als über die „Gesamtmerkwürdigkeit“ allen Lebens wunderte sich Genazino aber über sich selbst: über dieses „Kind stiller Nachkriegseltern“ und den kaum Erwachsenen, der mit großer Geste seinen ersten Roman anbietet, ohne zu merken, daß der Text „vollkommen redundant“ ist und der Erzähler „wie ein Kleinkind, das nur drei Sätze kann“, die Klage über die Kommunikationslosigkeit der Eltern ständig wiederholt. Dazu sein Mienenspiel, das kritische Augenbrauen-Hochziehen, die leise Selbstironie, die unvermittelt kippte – in Empathie, die wiederum von Scham begleitet war, über deren Andauern er sich ebenfalls nicht genug wundern konnte.
Die langen Pausen zwischen manchen Sätzen muten an, als müßte er dem Gesagten nachhören, um sich selbst verstehen zu können. Die Momente des Stockens erwecken den Eindruck, daß hier jemand nicht Herr über seine eigene Geschichte sein könnte. Es reicht eben vielleicht doch nicht, sie reflektiert zu haben. Die Umwälzung dieses Materials durch Schreiben, das „Einkörpern“, das bestenfalls zum Annehmen der Lebensumstände führt, bändigte bei weitem nicht alles.
Literatur sei „der Versuch, mit einem Schmerz zu sprechen“, schreibt Wilhelm Genazino in seinem Essay „Der gedehnte Blick“. Für seine eigene Prosa gilt das ganz besonders. Um mit einem Schmerz sprechen zu können, braucht es Abstand, den Blick eines am Rande Stehenden. Unkenntlich und verborgen, aus Häuserwinkeln und Passagen, sammelt Genazinos Spiel- und Spiegelfigur, jener fast austauschbare, bis auf eine Ausnahme immer männliche Erzähler aller Romane, Wahrnehmungen, als müsse er Sozialstudien betreiben. Zu nah herankommen an Menschen und Situationen darf er dabei nicht, sonst sieht er unscharf oder Ungewolltes. Zu weit sich entfernen aber auch nicht, sonst droht ihm Vereinzelung, gar Irrewerden. Das
Unglück ist das der Figur. Ebenso das Glück, das sich in pointierten Wortschöpfungen mitteilt.
Die beständige Analyse von Scham- und Schuldgefühlen führt ins Mark jener bundesrepublikanischen Gesellschaft, die im Nachkrieg zu schnell vergessen wollte und sich allzu gern ablenken ließ. Genazino diagnostiziert eine alles lähmende Trägheit bei gleichzeitiger Überaufgeregtheit, die oft genug ins Leere läuft.
Am deutlichsten hat er dies in seinem Roman Mittelmäßiges Heimweh entfaltet, in dem der Protagonist gleich zu Beginn ein Ohr verliert, später noch einen kleinen Zeh. Das Ungeheuerliche ist, daß kaum jemand dies registriert. Das Katastrophengefühl bleibt ein ganz privates und muß auch privat verarbeitet werden. Das Maß des Abstands entscheidet darüber, ob das Wahrgenommene beruhigt oder bedroht. Ein unglaublicher Balanceakt ist das, den zu beherrschen mit den Jahren und Romanen den Protagonisten immer schwerer zu fallen scheint. Sie werden dünnhäutiger. Immer weniger vermögen sie ihre Eindrücke zu sublimieren. Und als im letzten Roman Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze die bekannten Motive in einer Rasantheit einander abwechseln, daß einem fast schwindlig wird, weiß man nicht mehr: Ist das manisch? Oder radikal?
Abstand zu gewinnen versuchte auch Genazino selbst. In seinen Essays legte er Schmerz und Melancholie und all diese Affekte auf den Seziertisch. Um sie zu verstehen, untersuchte er ihre Abwehrmechanismen: „Verdrehen, Vergessen, Vergehen, Verschmerzen“, so lautet der Titel seines
Vortrags vor den Psychoanalytikern. Und wer etwa eine Erklärung von ihm wünschte, was ein Trauma für den Traumatisierten bedeutet, dem zeichnete er mit dem Finger die Form einer Ellipse in die Luft: Auf einer solchen Umlaufbahn bewege sich der Traumatisierte um die große Wunde herum. Mal
sei er der Wunde so nah, daß es nicht auszuhalten sei; mal so weit davon entfernt, daß die Wunde zu verschwinden scheine.
Ob so einer wie er, mit seiner Freude an blitzlichtartig auftretendem Schönen, so etwas wie eine Vorstellung von Transzendenz hatte? Eine Antwort versuchte ich ihm zumindest zu entlocken. Wer so oft von der „universellen Unerlöstheit“ schrieb, würde sich freilich nicht festlegen. Immerhin beschrieb er aber einen Ort: Er stehe wohl irgendwo zwischen Erstarrung und Erlösung. Genau in der Mitte. Denn: Beides tritt nicht ein. „Sondern es kommt der nächste Tag.“
Dieser Satz ist sicherlich der schlichteste in der Sammlung großartiger Genazino-Sätze. Aber gerade deshalb, nach seinem Tod im Dezember 2018, vielleicht auch der tröstlichste.
Aus dem Vorwort der 2006 erschienenen Arbeit.
Als die erste Idee zu dieser Arbeit entstand, war der Name Wilhelm Genazino nur einem kleineren Lesekreis bekannt. Diese Zeit ist längst vorbei, der Autor gekürt mit der höchsten Auszeichnung deutschsprachiger Literatur. Sich literaturwissenschaftlich mit seinen Texten auseinanderzusetzen, bedeutete auch, der Illusion zu erliegen, man könne das Werk dieses Autors ordnen. Und doch erwies sich als die vielleicht schönste Erfahrung während dieser Jahre, dass gerade dann der Blick sich weitet, wenn diese Illusion zurücktritt. Nicht nur „das Banale ist das Unaufräumbare“ (so Genazino in einem Essay), sondern letztlich die Literatur, wahrscheinlich das Leben – auch, weil das Banale sich aufzulösen beginnt, begegnet man ihm mit dem „gedehnten Blick“ dieses Autors.
Der Titel der Arbeit, „Schwebeglück der Literatur“ (Genazino), meint eben dies: Wie sich durch Sprache eine gewisse Schwerelosigkeit einstellt, obwohl doch das darin Verhandelte so schwer wiegt – und umgekehrt: wie das scheinbar Leichte ein Gewicht erhält. Die Gewichte und Nicht-Gewichte zu verteilen ist die eine, erzählerische Tätigkeit; die Beobachtung dieses Vorgangs die andere. Das Resultat liegt hier vor.
Anja Hirsch, In: Grenzräume der Schrift. Hg. von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein. tanscript Verlag, Bielefeld 2008, S. 269-288.