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Jun 3 11

Paula Fox: Woraus wir gemacht sind, ist bloß geliehen

Claus Brunsmann

Ihre Erzählungen sind Forschungsreisen in den Kontinent menschlicher Schwächen, ihre Biographie ist ein ergreifendes Dokument von Verlust und Tapferkeit: Zwei neue Bücher spiegeln die Größe der amerikanischen Autorin Paula Fox.
Ein Mann erhält nach Jahren Kontaktstille einen Brief von einem ehemaligen Schulfreund. Er antwortet ihm. Und weil sich oft erst beim Briefeschreiben ein Abgrund öffnet, schildert er dem Freund nicht einfach nur seinen Tag, sondern auch die quälende Stille nach der Arbeit. „Dann lausche ich meinen eigenen kleinen Geräuschen. Ich spiele mit der Kappe meines Füllers, schließe eine Schublade, lasse eine Büroklammer fallen und hebe sie nicht wieder auf.“ Schon liegt er da, der unscheinbare Gegenstand, in dem sich die Melancholie dieser Prosa verfängt. Erst später fällt sie ei- nem wieder ein, diese auf den Boden gefallene Büroklammer.
Vergessen, verlassen, versetzt zu wer- den ist eine Grunderfahrung im Leben der heute achtundachtzigjährigen amerikanischen Schriftstellerin Paula Fox. Den ersten scharfen Schnitt machen die El- tern schon wenige Tage nach der Geburt. Sie geben ihre Tochter in ein Heim für Findelkinder. Die Mutter ist zwanzig. Der achtundzwanzig Jahre alte Vater, ein Cousin des Schauspielers Douglas Fairbanks, schreibt mit wenig Erfolg Drehbücher und Theaterstücke. Aus dem Nichts tauchen sie immer mal wieder bei der Tochter auf und verschwinden jäh; Lebemenschen mit wenig Geld, sprunghaft, angezogen von Hollywood und der Künstlerszene New Yorks. Mit sieben wohnt Paula mit der spanischen Großmutter in „schuh- schachtelgroßen“ Wohnungen. Als sie elf ist, holen die Eltern Paula zu sich, reisen aber bald wieder ab und lassen sie bei der Haushälterin. Mit fünfzehn – das Paar ist inzwischen getrennt – quartiert sie der Va- ter allein in einer Wohnung in New York ein. Es folgen Internat, wechselnde Orte und Bezugspersonen. Der Vater bleibt ihr als Regelbrecher mit Charme im Gedächtnis, die Mutter als harsch. Die Ablehnung, unterbrochen von halbherzigen Ver- suchen, die Tochter in den chaotischen Alltag zu integrieren, ist das offene Rätsel des Lebens der Paula Fox. Die Mutter nennt keinen Grund – außer diesen: Sie habe schon vorher öfters abgetrieben, die- se Schwangerschaft aber zu spät bemerkt. Sätze wie aus Albträumen, deren Inhalt man nicht klar zu sehen wagt.
Kalifornien, Kuba, Florida, Montréal sind nur einige Stationen dieser Odyssee. Beziehungen, die in Brüche gehen. Und eine frühe Schwangerschaft – Paula Fox gibt als sehr junge Mutter selbst ihre älteste Tochter zur Adoption frei. Es gibt aller- dings eine stete Zeit in diesem unruhigen Leben, ein Boden unter den Füßen, der für einige Jahre betretbar scheint: „Onkel Elwood“. Der Geistliche nimmt Paula mit fünf Monaten bei sich auf, liest ihr vor, gibt ihr Halt und Sprache – das „in allem Ernst gesprochene Wort“. Mit ihm lässt Paula Fox auch ihre Geschichten einer Jutentielle Schwere, die Paula Fox ihnen ein- gibt, wenn sie im richtigen Moment schließt, eine Büroklammer fallen lässt oder Dialoge und Gesten so arrangiert, dass man die große Störung hinter den vielen kleinen irritierenden Alltagshandlungen aufbrechen sieht – „das Sichtbare und das Unsichtbare“, wie Bernadette Conrad in ihrem Nachwort schreibt.
Die besten Erzählungen aber betonen den Rang dieser großen amerikanischen Autorin und ihres Werks. Sie verwandeln sich die Doppelbödigkeit eines Lebens an, das geprägt ist durch die Erwartung von Unsicherheit, durch die Erfahrung einer Logik wie in „Alice im Wunderland“: Wenn etwas fällt oder verschwindet, kann es an einem anderen Ort wiederauftauchen oder auch an zwei Orten zugleich sein – durch Erinnerungen, Phantasie, Bücher. Von dieser ver- wirrenden Sehnsucht und der Aufhebung der Schwerkraft handelt das Werk.
Schon in diesem Buch, 2003 auf Deutsch erschienen, war einem Paula Fox’ Lebensgeschichte nahe gerückt, weshalb eine reine Biographie wie ein Anhängsel gewirkt hätte. Die Literaturkritikerin Bernadette Conrad geht einen anderen Weg. Sie fügt nach vielen Besuchen und Reisen zu den Wohnorten eigene Facetten hinzu: „Die vielen Leben der Paula Fox“ ist das Ergebnis einer sehr persönlichen Spuren- suche und selbst poetisch. Keine trockene Fleißarbeit, der es um möglichst viele De- tails geht. 2005 begegnete sie erstmals dieser Frau mit schnellem Schritt, „leicht und entschlossen, immer irgendwohin unterwegs“. Sie nimmt die abgerissenen Lebensfäden vorsichtig in die Hand, zwirbelt sie zusammen und wieder auseinander, fragt und hinterfragt. Sie erwägt Erklärungen an jenen Stellen, die Paula Fox klug be- schwiegen oder gewandt fiktionalisiert hat. Conrad will gar nicht erst den Ein- druck erwecken, dies alles gehe sie nur et- was als ordnende Biographin an.
Die Einlassung ist ihr Gebot. Das ist natürlich in der Folge einer wilden Form aus Reportage, Zitat, Interpretation, Fakten, Selbstbildmontage heikel und nicht immer frei von Übermut und Grenzüberschreitung. Lässt man sich aber auf ihre Bedingungen ein, auf den Mut zum distanzge- schwächten, gleichwohl respektvollen Subtext zu diesen „vielen Leben“, ergibt sich eine Art Ordnung zweiten Grades: Die har- ten, emotionalen Risse dominieren und spiegeln sich in Gesprächen mit Paula Fox’ Kindern oder dem Autor Jonathan Franzen, der sich für ihr Werk einsetzte.
Sie werden aber auch an die Zeit angeschlossen. Mobilität und Amerika als Einwanderungsland etwa dienen Bernadette Conrad als Begriffskulisse zur Beschrei- bung allgemeiner Zustände, etwa der Weggabepraxis, die lange vor Paulas Ge- burt begann, als Findelkinder in New York noch „mit Sünde infiziert“ waren. Anders als elternlose Waisen, recherchiert sie, galten sie weniger als Opfer, vielmehr als „von Gott und der Welt ver- lassen“. Conrad geht dieser Scham nach und ergründet, was „die scharfe Klinge des Lebens“ zu tun hat mit der „scharfen Klinge, mit der diese Autorin ihr Material Sprache bearbeitet“.
Im Alter von vierzig Jahren begann Pau- la Fox zu schreiben. Sechs Romane, zwei autobiographische Bücher, dreiundzwan- zig Kinderbücher liegen inzwischen vor – jüngst erschien ein neuer Band mit Erzählungen und Vorträgen: „Die Zigarette und andere Stories“ enthält Geschichten, in denen die scharfen biographischen Schnitte einen Abdruck hinterlassen ha- ben. Die Angst vor Verlust sitzt den Figuren im Nacken. Und wenn sie doch ein- mal nach langen Schweigezeiten vorsichtig Kontakt aufnehmen, passiert das oft ohne Sinn für die richtige Dosierung der Liebesgabe. Entweder verschenken sie sich ganz oder schrecken unangemessen zurück, wenn man sie zu lange berührt. Das richtige Maß für Nähe zu finden erfordert einige Energie. Keineswegs – und das ist das Besondere an diesen Geschichten – ergreift diese Anstrengung die Sprache. Vielmehr scheint es so, als transformiere das Erzählen die Beziehungsnot der verwundeten Figuren in zarte Verletzlichkeit.
Tatsächlich machen die meisten sogar vorm Abgrund halt. Sie greifen zum Telefon, um doch noch jemanden anzurufen. Sie unternehmen tapfer lange Fahrten zum lange vermiedenen Vater, ohne Antworten zu finden. Oder sie warten nach Beerdigungen, bis sie in dunklen Räumen sitzen, um endlich schreien zu können, doch immer allein. Nicht alle Erzählungen aus den letzten knapp 45 Jahren in diesem vermischten Band haben die existentielle Schwere, die Paula Fox ihnen ein- gibt, wenn sie im richtigen Moment schließt, eine Büroklammer fallen lässt oder Dialoge und Gesten so arrangiert, dass man die große Störung hinter den vielen kleinen irritierenden Alltagshandlungen aufbrechen sieht – „das Sichtbare und das Unsichtbare“, wie Bernadette Conrad in ihrem Nachwort schreibt.
Die besten Erzählungen aber betonen den Rang dieser großen amerikanischen Autorin und ihres Werks. Sie verwandeln sich die Doppelbödigkeit eines Lebens an, das geprägt ist durch die Erwartung von Unsicherheit, durch die Erfahrung einer Logik wie in „Alice im Wunderland“: Wenn etwas fällt oder ver- schwindet, kann es an einem anderen Ort wiederauftauchen oder auch an zwei Orten zugleich sein – durch Erinnerungen, Phantasie, Bücher. Von dieser ver- wirrenden Sehnsucht und der Aufhebung der Schwerkraft handelt das Werk der Paula Fox.

Paula Fox: „Die Zigarette und andere Stories“.
Aus dem Englischen von Karen Nölle und Hans-Ulrich Möhring. C. H. Beck Verlag, München 2011,
255 S., geb., 19,95 €

erschienen in der  FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 3. Juni 2011

Apr 30 11

Bernd Brunner: Porträt

Claus Brunsmann

Der Mensch und der Mond führen eine merkwürdige Beziehung. Distanziert, muss man wohl sagen. Aber keineswegs ohne Leidenschaft. Was vielleicht daran liegt, dass man so lange so wenig voneinander wusste. Welche Geschichten fantasiebegabte Menschen im Laufe von Jahrhunderten auf die Umlaufbahn schickten, erfährt man in Bernd Brunners Buch „Mond. Die Geschichte einer Faszination“. Und so skurril sich dort diese Beziehung zwischen Himmelskörper und Mensch ausnimmt, so skurril liest sich Brunners eigenes Werkverzeichnis, entstanden aus Fragen, die eher Kinder stellen: Wie kommt das Meer nach Hause? So heißt sein Buch über die Erfindung der Aquarien. Und wer hat eigentlich den Weihnachtsbaum erfunden? Nachzulesen bei Brunner in diesen vorweihnachtlichen Tagen. Wiederum geht es da viel um Projektion, um das, was Menschen damit verbinden. Der Baum als Traum, wo sich verschiedene Dinge verdichten.

Bernd Brunner wollte immer erzählen, nicht dozieren oder aufzählen. Er testete die Grenzen zwischen Essay und Literatur. Jetzt ist er also Sachbuchautor. Was das überhaupt ist? Er bleibt bescheiden, es dauerte ein paar Bücher, bis er das über sich selbst sagte. Der Weg scheint inzwischen klar und seine Talente bestmöglichst genutzt, eine neue Idee sogar schon in Sicht: Das Leben in der Horizontalen. Es wird übers Liegen gehen und wie verschiedene Kulturen das handhaben. Auf solch eine Idee muss man erst mal kommen.

Sein erstes Sachbuch handelte von uns und einem Tier: „Bär und Mensch“. Seltsam, dass Menschen sich manchmal so nennen, gerne dann im Diminutiv: Bärle. Oder Bärchen. Und dann der Teddybär, so einen hatte Brunner selbstverständlich auch. Plötzlich war die Idee da, so wie Ideen einfach da sind, ohne dass man genau weiß, woher sie kommen. Er begeisterte dafür einen Verlag, forschte, sammelte und schrieb die Geschichte dieser Beziehung. Der Bär also, ein Objekt, das er – wie den Mond – schlecht anfassen konnte. Dabei, sagt er heute, bahnte ihm gerade das Anfassen, das Fühlen den Weg. Als Kind Steine, Wurzeln, Früchte sammeln. Dann der Blick durchs Mikroskop ins Innere, das so anders aussah als der Gegenstand von außen. Die filigrane Landkarte aus Seen und Äderchen faszinierte ihn. Ein Naturwissenschaftler ist trotzdem nicht aus ihm geworden. Nach einer Banklehre hat er BWL studiert, aus Vernunftsgründen, und anschließend journalistisch gearbeitet, auch beim Fernsehen, die Wirtschaftsthemen, „Späth am Abend“ zum Beispiel. Dann der Bruch mit der Wirtschaft und noch ein Studium, diesmal Kulturwissenschaft und Amerikanistik, einige Semester davon auch in Seattle. „Nach Amerika. Die Geschichte der deutschen Auswanderung“ schrieb er dort, zunächst auf Englisch. Jetzt drückt er sich lieber wieder in der Muttersprache aus, da ist er spielerischer und literarischer. Unternehmerischen Geist treibt ihn immer noch, beispielsweise bei der Suche nach Verlagen, gerne immer andere. Brunner tritt ein für seine Bücher, die in acht Sprachen übersetzt sind, ganz vorne: Japan. Warum sich gerade Japan für seine Themen interessiert, weiß er selbst nicht recht.

Vielleicht ist es die Aufmachung der Bücher, ihr Bildcharakter: Blättert man sie durch, verweilt man gerne bei filigran gezeichneten Graphiken, die illustrieren, was Brunner gerade erklärt. Im Aquariumsbuch etwa das Bild zweier Akrobatiker, am Uferrand eines Gewässers mit Verrenkung beschäftigt, während unter ihnen ein großer Tintenfisch im Wasser schwimmt, formgleich wie die verbogenen Turnerkörper. Tatsächlich hatten, so lesen wir, im 18. Jahrhundert französische Forscher beim Ringen um Verständnis des rätselhaften Tintenfisch-Körperbaus Parallelen gezogen zwischen den Bewegungen des Meerestiers und der Akrobaten. Und wir tauchen mit Brunner weiter in die Tiefe, wo Lebewesen wohnen, die unseren Vorstellungen von Monstern gar nicht so unähnlich sind. Mit dem aus der Tiefsee ans Tageslicht beförderten Wissen kommen Rätsel, abstruse Noterklärungen und Emotion.

Kulturgeschichte, so zeigt Brunner in allen Büchern, ist immer auch eine Folge von Projektion, dem Bedürfnis entsprungen, das Unerklärbare handlich zu machen. Und es wundert kaum, dass George Fowlers 1813 in seiner Erzählung „A Flight to the Moon“ eine „Wolke, so weiß wie Milch“ beschreibt, die sich bei näherer Betrachtung als weibliche Schönheit entpuppt, mit einer Haut „so weiß wie langsam fallender Schnee“, mit rosafarbenen Wangen und Lippen und Augen so hell wie funkelnde Diamanten. Mit zarten Worten lädt sie den Helden in ihre Welt ein: „Du bist dazu bestimmt, den Mond zu besuchen!“

Der Mond, der Bär, die Wassertiere, der Weihnachtsbaum – alle eignen sich beim Betrachten hervorragend zur Umstülpung der eigenen Innenwelt. Brunners Bücher mit ihren vielen Bildern sind Archive, in dessen Mappen die Träume, die Visionen, die Ängste der Menschheit lagern. Das Internet hat ihm die Spurensuche erleichtert. Privatarchive waren besser auffindbar und nicht mehr nur Zufallsfunde. Als er noch während des Studiums das erste Buch von Wolfgang Schivelbusch las, über die Geschichte der Eisenbahnreise, war das Erkenntnisinteresse festgelegt: Die Geschichte der Eisenbahnreise als Mentalitätsgeschichte. Schivelbusch vermittelte nicht trockenes Wissen, sondern ein Drama. Er erzählte, wie die Eisenbahn in die Menschen regelrecht hineingebrochen ist und ihr ganzes Empfinden von Zeit und Raum veränderte. Solche Zusammenhänge wollte auch Brunner anschaulich machen. Er selbst sieht sich zuständig fürs populäre Sachbuch, ohne akademischen oder theoretischen Anspruch. Gleichwohl verleibt er sich schwierige Texte ein, um danach die Position zu vereinfachen, auch das eine Herausforderung. Er erzählt, was ein Mondregenbogen ist, warum wir den bleichen Erdbegleiter fälschlich als weiß erleben und wie die katholische Kirche und Maria sich zu ihm verhalten. Er fragt, ob er ein Geschlecht hat und schaut nach, wer ihn alles bedichtet hat. Bei aller Kulturgeschichte vergisst Brunner nicht die technische Seite, die Apparaturen. Seine Bücher führen Kultur- und Naturwissenschaften zusammen. Von dieser Begegnung zu erzählen wie in einem „Kinderbuch für Erwachsene“, ohne verniedlichende Sprache, ist Brunners Ideal.

Vielleicht ist das die Erklärung dafür, warum seine Bücher bei aller Seriosität und jenseits ihrer Vielfalt merkbar an zwei archaischen Kindheitspfeilern entlang geschrieben sind: Bedrohlichem und Visionärem. So auch in Bernd Brunners aktuellem Buch über den Mond. Licht und Schatten strukturieren es, die immer heller alle Mondwinkel ausleuchtende Geschichte der Wissenschaft auf der einen Seite, und der Mond unserer dunklen Gedankenwelt auf der anderen Seite. Brunner zeigt den Mond als Studienobjekt wie Projektionsfläche. Realität und Fiktion, so erweist sich, sind dabei keineswegs komplett voneinander getrennt. Im Gegenteil: Oft sind sie, und das ist vielleicht das Erstaunlichste an dieser Übersicht wie an den anderen, eng miteinander verzahnt.

Jetzt ist Bernd Brunner erst einmal spontan umgezogen, von Berlin nach Istanbul, das ihn inspiriert. Und wo er, trotz seines Buches über die Erfindung des Weihnachtsbaums, nach wie vor keinen eigenen Weihnachtsbaum schmücken wird. Eine Lichterkette im Fenster genügte ihm bislang. Man darf gespannt sein, welche Themen sie künftig noch alles beleuchtet – jenseits der aktuell entstehenden Geschichte über das Leben in der Horizontalen.

Von Bernd Brunner erschienen:

erschienen auf  ZEIT ONLINE, 2011

Nov 30 10

Ulla Hahn: Aufbruch

Claus Brunsmann

Hilla Palm – das ist, obwohl gern vermutet, nicht etwa eine Anspielung auf Hildegard Domin, die Lyrikerin und eine verheiratete Palm. „Dat“ Hilla und auch der Nachname Palm sind schlicht beliebte Kölscher Name. So beliebt, dass Ulla Hahn, selbst bekanntlich auch Lyrikerin, in ihrer autobiografisch grundierten Prosa ihre Protagonistin eben Hilla Palm nannte. Das erzählt sie jedenfalls gerne in Interviews. Die Erkundung ihrer Wurzeln schon im ersten, bereits verfilmten Roman „Das verborgene Wort“ (2001) verband sich dabei untrennbar mit der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in den fünfziger Jahren. Auch die Fortsetzung „Der Aufbruch“ transportiert nicht nur die Sicht einer Heranwachsenden, die durchs Wort, durch die Begeisterung für Literatur zum Leben findet. Diese Prosa, nun bei den 60er Jahren angekommen, atmet durch die Zeit, in der sie spielt; durch den Einzug des Quelle-Katalogs in die Provinz; das Aufklappen des Fernsehers in der Küche, dem einzig beheizten Raum im Haus; durch die vielen, oft unreflektierten Rituale, die Ulla Hahn in beiden Romanen zusammenträgt. Volksnah und drastisch erzählt sie vom Aufwachsen Hillas im katholischen Rheinland. Der Großvater war diesem Mädchen stets eine Lichtgestalt. Sein „lommer jonn“, lass uns gehen, zieht sich wie ein Lockruf durchs unterkühlte Erziehungslabyrinth der Eltern. Man meint diesen Ruf auch im zweiten Teil noch zu vernehmen. Hilla ist inzwischen Oberstufenschülerin kurz vor dem Abschluss, ihr Ziel nach wie vor die Befreiung aus einer Familie, die Bildung nicht vorsieht.

Das hat seinen Preis, schleichen sich doch Inbrunst und Sehnsucht dieser strebenden Figur Hilla mitunter etwas mustergültig zwischen die Zeilen. Doch man kommt nicht umhin, die planvolle Hand hinter dieser Ich-Perspektive zu bewundern. „Bööscher? Nä, hatte der Vater gesagt. Aber ich bekam eine Zahnspange“, heißt es schon lapidar im ersten Band. Auch jetzt gilt Ulla Hahns Liebe dem Aufeinanderprall unterschiedlicher Welten. Das Arbeitermädchen, das beim Lesen der Philosophen einen „kalten Jubel im Kopf“ verspürt, erhält unverhofft Türöffner – für das Studium in Köln und einen Platz im Wohnheim; nicht nur finanzielle Helfer, auch solche, die sie bestärken, das zu tun, was sie will. Früh bewirbt sich ein wohlhabender „Campari-Mann“ um die junge Dame, der ihre Wissbegier schätzt und ernsthaft anbietet: „Ich hol dich da raus“. Doch Hillas Credo heißt „Leistung statt Almosen“. Später sind es andere Lichtgestalten, zwischen die sich allerdings auch Traumatisierendes schiebt. Es scheint sogar, der Roman ebenso wie die Hartnäckigkeit der Figur seien um dieses Ereignis, eine Vergewaltigung, herumgeschrieben. Alles erhält dadurch einen anderen Ausdruck.

Wie hier überhaupt Tonarten einander abwechseln, wie hier die Lesenden umschmeichelt werden, wie hinter vorgehaltener Hand Unsagbares mitgeteilt oder prall vom Alltag gesprochen wird, interessiert und überzeugt. Und es fehlt auch diesmal nicht an jener poetischen Kraft, die Ulla Hahn immer wieder mit jenen sogenannten „Buchsteinen“ beschwört, die auch graphisch die einzelnen Abschnitte voneinander scheiden: Fund- und Sammelstücke des Großvaters, der die Kinder anhielt, Geschichten in die von der Natur imprägnierten Schnörkel hineinzulesen. Diese Gabe, die Wirklichkeit zu vergrößern, verlässt auch die Erzählerin nie. Bisweilen schüttet sie ihre Früchte etwas üppig aus. Wer das nicht scheut, fühlt sich in eine andere Zeit zurückversetzt. Man trägt auch an warmen Tagen lange Wollstrümpfe. Es gibt Tanzstunden, gebauschte Strickjäckchen, goldene Ketten mit Kreuz. Und jetzt, in den 60ern, eben die neue Welt, die durch den Fernseher eindringt, aufgespannt zwischen Kriegsverbrecherprozessen und Grzimek. Dialekt, Latein, Sprachspiele halten den erzählerischen Ton frisch. Darunter blitzen die Nöte derer auf, die im ersten Band vom Kind noch unverstanden blieben: die der Eltern. Hilla beginnt zu verstehen. Und so wird dieser zweite Roman tatsächlich im doppelten Sinn zum „Aufbruch“: in freies, unabhängiges Denken; aber auch zum Aufbruch der verkrusteten emotionalen Häute einer ganzen Generation. Ein dritter Band ist in Arbeit. Schön, wenn dieser Weg weiterverfolgt wird.

 

Ulla Hahn: Aufbruch. Roman. Deutsche Verlagsanstalt, München 2009, 592 Seiten, 24,95 €.

Erschienen in der Stuttgarter Zeitung, 2010

Jun 30 10

Chaim Be’er: Bebelplatz

Claus Brunsmann

Es ist Nacht, als ein israelischer Schriftsteller, während einer Konferenz zu Gast in Berlin, auf den Bebelplatz, vormals Opernplatz tritt. Zu seinen Füßen betrachtet er die in den Boden vom Künstler Micha Ullman eingelassene Glasplatte, darunter den leuchtend weißen Raum mit leeren Regalen, der an die Bücherverbrennung mahnt. Hier, sagt sein Begleiter Schlomo Rappoport, Antiquar in Berlin, tat am 10. Mai 1933 die Erde ihren Mund auf. Hier, zu Füßen der Leute, „und sie sahen es und schrien nicht“. Wir sind schon mitten drin im Roman „Bebelplatz“, der viele Geschichten erzählt, von Auswanderern, einer deutschen Philologin und einem israelischen Immobilienhai, vom Sohn eines hohen Militärs der Nazizeit, von manischen Büchersammlern und Instituten, die sich um einen sicheren Ort für jüdische Schriften sorgen. Und so, wie das Studium des Talmud Austausch und quirliges Gespräch entfachen soll, überzeugt auch dieser Roman weniger durch einen zwingenden Handlungverlauf, vielmehr durch den melodiösen Kontrapunkt, der sich aus Rede und Gegenrede der Figuren entwickelt. Man fragt, bohrt nach, spielt mit Wissen, kontert scharf, freut sich auch mal heimlich an der Unbelesenheit des Anderen oder erzählt enthusiastisch. Das schafft authentische, charismatische Figuren mit Stärken und Schwächen. Und so folgt man als Leser gern dieser gewandten Rhetorik. Unvermutet entdeckt man immer wieder neue Lebenlinien, die sich quer über Kontinente spannen und geheime Verbindungen freilegen; oder man verweilt bei einer kleinen Geschichte, die plötzlich das Gewicht eines Gleichnisses erhält, das die Augen für Namenloses öffnet.

Chaim Be’er heißt der hier erzählende Schriftsteller im Roman, so wie der Autor selbst, der, 1945 geboren, in einer orthodoxen Familie in Jerusalem aufwuchs. Ein Aufenthalt im Literarischen Colloquium führte ihn nach Berlin in die Villa am Wannsee. Hier lässt er nun Gelehrte aus aller Welt in einer konspirativen Runde aufeinandertreffen. Alle verbindet die Leidenschaft fürs Buch. Schlomo Rappoports Leben etwa ist schicksalsträchtig damit verhaftet. Während er und die Mutter der Nazigreuel entkam, blieb sein Vater – wegen der Bücher. Mit einem der letzten Transporte von Berlin-Grunewald hat man ihn nach Bergen-Belsen deportiert. Von der Bibliothek blieb nichts. Bis heute sucht Rappoport nach einem Buch seines Vaters und nach solchen Büchern, die gar nicht erst in Umlauf gelangten, weil sie noch in der Druckerei verbrannten. Jetzt, auf dem Bebelplatz, während der Schnee schräg fällt und der Sturm immer stärker wird, während der Antiquar Untergangsstimmung verbreitet und vom allesverschlingenden Charakter der Erde spricht, treffen die Erinnerungen aufeinander und bilden einen weiteren gespenstischen Kontrapunkt. Berlin als Ort dieser Begegnungen ist ebenso wichtig für Struktur und Wirkung dieses Romans wie das Spiel aus Rede, Gegenrede und Schweigen. Insbesondere der Wannsee. „Auf der einen Seite des Sees verschluckte die Dunkelheit das Gästehaus der SS, und rechts davon leuchteten einige Lichter der Halbinsel Schwanenwerder, auf der in ihren glücklichen Jahren Vater Joseph Goebbels und Frau Magda mit ihren sechs süßen Kindern gewohnt hatten.“

Die Leere und „der Abgrund zwischen den verschiedenen Ebenen der Existenz“ blitzen wie in tausendfach angeordneten Spiegeln auf. Be’er arbeitet damit metaphorisch, theologisch, biografisch. Er verbindet dabei die Leere mit Fülle, die negative Assoziation mit der positiven, die in dieser verwirrenden Zweideutigkeit noch deutlicher im Originaltitel anklingt: „lifnej ha-makom“ (2007) heißt „Vor dem Platz“. „Platz“, erläuterte der Autor in einem Interview, verweise im Hebräischen auch auf Gott. Denn in der hellenistischen Zeit ließ man einen Buchstaben aus, wenn man Gottes Namen schrieb. Man hielt einen Platz frei. Am Bebelplatz mit seiner unterirdischen leeren Bibliothek fragt Schlomo Rappoport: Wo war Gott während des Holocaust?

Schmerz und Hoffnung, gespeist aus der Geschichte der europäischen Juden bis zur Situation im heutigen Israel, sind Leitströme dieser vielschichtigen Prosa. Alle Romanfiguren begegnen der Angst vor dem Verlust jüdischer Kultur auf unterschiedliche Weise. Chaim Be’er etwa arbeitet an einem Buch über einen Mann, der eine Bibliothek außerhalb Israels errichten will – eine „Sicherheitskopie“ für den Fall, dass der Staat Israel untergeht. Das Romanprojekt steckt allerdings fest – wegen der „plötzlichen Nähe zur Wirklichkeit“ in Berlin, wo die böse Ahnung einer bücherlosen Welt ein reales Vorspiel hat. Und so sammelt er in den vielen Begegnungen Mosaiksteine, statt einem glatten Erzählplan zu folgen. Der alte Roman geht im Neuen auf, mit Fragen und Reflexionen, die sich um eine kleine, angedeutete Liebelei legen und viele Rätsel lassen. Gerade aber an den ästhetischen Bruchkanten, an den anspruchsvolleren Passagen von „Bebelplatz“, verdichtet sich das hier angehäufte Material zum zentralen Thema, das die Romanteile verstrebt und trägt: Wie überdauert der Geist, das Wort, eine ganze Kultur? „Bebelplatz“ erzählt schließlich auch von der Dringlichkeit, Kultur nicht nur zu bieten, sondern zu empfangen – was im Falle Chaim Be’ers, dessen Werk mit historischen wie jüdisch-religiösen Bezügen durchzogen ist, eine besondere Herausforderung ist. Die Übersetzerin Anne Birkenhauer, die unter anderen auch David Grossmans Romane sensibel aus dem Hebräischen übertrug, ist sich dieser Schwierigkeit bewusst und erläutert in einem Nachwort ihre genau abgewägten Entscheidungen. In Absprache mit dem Autor hat sie an einigen Stellen unauffällig Überbrückungshilfe geleistet, an anderen Stellen um explizitere Formulierungen gebeten, damit Anspielungen auf Bibelzitate und andere Assoziationen verstanden werden. So ist diese deutsche Ausgabe tatsächlich neben dem Original eine weitere Version, für die man dankbar sein kann, weil sie die Komplexität des Themas auf der sprachlichen Ebene begleitet.

Chaim Be’er: Bebelplatz. Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Berlin Verlag, Berlin 2010. 319 Seiten, 24,90 €.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2010

Jun 29 09

Carl-Henning Wijkmark: Nahende Nacht.

Claus Brunsmann

Gemeinhin folgt man Ich-Erzählern recht gerne in ihre Gedankenwelten. Jedenfalls dann, wenn sie entsprechend packend erzählen können. Zu wissen, dass der Erzähler seinem baldigen Tode entgegen denkt – wie in Carl-Henning Wijkmarks Roman „Nahende Nacht“ – erfordert hingegen ein besonderes Vertrauensverhältnis. Was, wenn er uns in Abgründe zieht, die wir jetzt noch nicht erkunden wollten? Hasse, die Hauptfigur im neuen Roman des 1934 geborenen Schweden, macht es uns leicht. Er umgibt sich schon zu Beginn seines letzten Krankenhausaufenhaltes mit klugen Büchern über die Kunst des Sterbens. Das schafft ein wenig Sicherheit. Und eben weil es so leicht fällt, ihm zuzuhören, gibt man ihn am Ende dieser kleinen Sterbensnovelle so ungern her.

Seine Erzählerposition ist so haltlos wie seine Lage. Man wundert sich nicht einmal, wie er das alles hat schreiben können, wo er doch am Ende sogar seine sterbliche Hülle verlässt: „versuche, die Beine über die Bettkante zu heben, aber ein riesiges Gewicht presst sie fest. Es ist kalt. Will den Arm heben, um Licht zu machen, aber er rührt sich nicht. Das ist alles. Nie mehr.“ Auch die Realität gibt bekanntlich keine Todesberichterstatter her. Was diesen hier dennoch so vertrauenswürdig macht, ist nicht seine Belesenheit, sondern seine entwaffnende Offenheit. So radikal hat zuletzt vielleicht Philip Roth in seinem Roman „Jedermann“ (2006) über das Verlöschen geschrieben; wie sich dessen Protagonist minutiös von einem Totengräber die Prozedur des Ausschaufelns erklären lässt, gehört zu den ergreifendsten, rätselhafter Weise sogar zu den beruhigendsten Szenen der jüngsten Literaturgeschichte über dieses Thema. Wijkmark ist ästhetisch gesehen genauso konsequent. Als Autor, der mit seinem Buch „Der moderne Tod“ (1978) schon früh die Überalterung thematisierte und sich in seiner Heimat Schweden an der Debatte um Sterbehilfe beteiligt (FAZ vom 22.8.09), verfolgt er aber noch ein anderes Ziel: das Sterben in Krankenhäusern aus der Sicht des Betroffenen zu schildern. Das hätte schnell eine pflichtversessene Etüde ergeben können, die auch noch den kleinsten, informativen Todestriller mit Fleiß hebt. Nichts davon ist „Nahende Nacht“.

Woran liegt das? Wijkmark gestaltet diese letzte Phase nicht als geradlinige Talfahrt. Es gibt Höhepunkte – Georg, der den Bücherwagen des Hospitals schiebt; das Herein- und Herausschweben der Schwestern; traumartige, prächtige Farben, die das Morphium dem Todkranken beschert. Und es gibt Variationen, wenn Hasse statt in Farben in tiefere, meditative Zustände versinkt. Dann tauchen Menschen aus der Vergangenheit auf, ja, es kommt „zu regelrechten Themenabenden“, zu Gesprächen, denen er lauscht, ohne selbst mitzureden. Nur einmal geht ein Ruck durch die Erzählung, als sich die beiden Mitsterbenden, mit denen Hasse noch zuvor gerne über den Tod debattierte, nachts von der Schwester ein Festmahl servieren lassen. Mit Wodka trinken sie sich entschlossen in den Tod. Danach ist Hasse sich selbst überlassen, wiegt Jenseitsvorstellungen des ägyptischen gegen das tibetische Totenbuch ab, um sich abzulenken – und beobachtet: wie man darauf wartet, dass auch er das Zimmer räumt, weil das die Kosten senkt; wie seine Lebenskraft kommt und geht und warum; wie jetzt öfters geputzt wird; und wie in diesen spätherbstlichen Tagen erst eine Taube, dann eine Fledermaus durchs offene Fenster flattert. Es wird nie direkt ausgesprochen. Aber man ahnt, dass die liebreizende Schwester Angela auch mehr reichen kann als die vorgesehene Dosis.

„Nahende Nacht“ ist selbst geschrieben wie ein wundersamer Traum mit wachen Episoden. Die Welt wird zwar enger. Aber dabei erzählt sich in fließender und genauer Sprache nicht der Tod, sondern das Leben, während man es zugleich hinter dem Vorhang verschwinden sieht – wie den ehemaligen Theatermann Hasse früher auf der Bühne. Hasse federt zwischen allem und bezieht keineswegs eindeutige Positionen. Mal wundert ihn das „Verbrauchen und Wegwerfen“ des menschlichen Lebens, und er will eine zweite Chance; dann wieder darf es ruhig schmerzgelindert verglühen. Je nach momentanem Zustand würde er auf die Frage nach Sterbehilfe anders antworten. Den professionellen Tröstern der Kirche misstraut er. Obwohl auch er immer deutlicher eine Sprache der Liebe pflegt.

Wijkmark spart das Körperliche nicht aus. Aber er zieht es ein wie die zwingende Handlungsebene eines Dramas, bei dem wenige Requisiten ausreichen, um das Leiden aufzurufen: die „Sandpapierzunge“ oder „diese qualmende Trockenheit, der Rauch, der mit meinem Körper abzieht“. Als löse er uns selbst aus diesem Drama sanft heraus, begleitet er in der Abgeschiedenheit dieses kleinen Zimmers seinen zum Sterben sich bereit haltenden Mann ganz langsam, ohne Eile, in jenen anderen Zustand; durch „kurze Schübe einer eiskalten Todesangst“, wenn die Kraft es zulässt; aber schließlich auch hinein in eine „Vereinfachung“, vor der sich alles verflüchtigt. Er macht ihn dabei milde. Und je mehr Hasse dank seiner zähen Widerständigkeit dieses Haschmich-Spiel mit dem Tod durchschaut, desto mehr Gewicht scheint von ihm abzufallen.

Man mag das alles als wohlgelauntes Finalcapriccio im Reich der alles erlaubenden Fiktion aufnehmen. Lieber will man sich aber verbeugen vor der Radikalität dieser in ihrem Minimalismus so prägnanten Erzählung, die keinen Winkel scheut. Carl-Henning Wijkmark, der für dieses Buch 2007 den bedeutendsten schwedischen Literaturpreis, den August-Preis erhielt, weicht die Komplexität des Themas nicht auf. Und womöglich liegt es sogar gerade an jenem reflektierenden, unbestimmten Tonfall, das einem bisweilen die Kehle eng wird. Bei aller Darstellung verschiedener Positionen überwiegt immer die Nähe zur Figur. Wijkmark lässt sie niemals fallen, während er sie, fast ein wenig zärtlich und alle Launen verständnisvoll hinnehmend wie die beiden Krankenschwestern, durch die Einsamkeit dieser letzten Lebensphase geleitet.

 

Carl-Henning Wijkmark: Nahende Nacht. Roman. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009. 154 Seiten, 17,80 €.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2009

Apr 7 08

John Berger: Mit Hoffnung zwischen den Zähnen

Claus Brunsmann

Buchrezension, WDR 3, Mosaik, Redakteur: Adrian Winkler, Autorin: Anja Hirsch

 

Anmoderation:

Ein Bild ist nicht nur ein Bild. Jedenfalls nicht, wenn der englische Schriftsteller und Kunsttheoretiker John Berger es in Augenschein nimmt. Seine intimen Beschreibungen von Fotografien, Gemälden, von Lebens-Szenen sind Legende. Und sie gehen immer weit über ihren Gegenstand hinaus. Schon früh hat den Friedensaktivisten John Berger dabei stets auch die große Weltpolitik bekümmert: Seinen Beruf als Maler und Zeichenlehrer vernachlässigte er Anfang der 50er, weil er öffentlich Widerstand leisten wollte – als Journalist, der über die nukleare Bedrohung aufklärt. Als er 1972 für seinen experimentellen Roman „G.“ überraschend den Booker Price gewann, sorgte er für einen Skandal, weil er die Hälfte des Preisgeldes an die umstrittene afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung „Black Panther Group“ spendete. Er verließ London und zog in ein kleines französisches Bergdorf in die rauhe Savoyer Landschaft. Von dort meldete sich der heute 81-Jährige immer wieder zu Wort – zuletzt im Dezember 2006 mit einem Boykott-Aufruf gegen die Besatzungspolitik Israels, der auf Störung im Bereich Kultur und Wissenschaft abzielte. Über 80 Künstler wie der Musiker Brian Eno, die Schriftstellerin Arundhati Roy unterstützten diesen Aufruf, der auch auf Kritik stieß. Jetzt kann man in einem neuen Essayband Bergers „Berichte von Überleben und Widerstand“ nachlesen. „Mit Hoffnung zwischen den Zähnen“ heißt der im Wagenbach Verlag erschienene Band, den Anja Hirsch vorstellt.

 

Rezensentin:

Zunächst einmal klagt John Berger global an: den Konsum, den Luxus, die ökonomische wie militärische Tyrannei; und das Schweigen, mit dem der Westen die Konflikte der Welt bemäntelt. Bergers Blick ist aber keineswegs der eines Pessimisten, der das Handwerk der Bauern, das einfache Leben in seinem französischen Bergdorf schätzt und wenig anderes. Seine Betrachtungen fügen sich nicht zur Litanei. Bergers Kritik an den Verhältnissen bildet nur den Anstoß dieser Essays, deren wichtigste Prämisse wohl diese wäre: Es gibt keine Freiheit ohne Handeln. Unpolitisch zu leben ist praktisch unmöglich und schreiben per se, wenigstens bei Berger, über viele Umwege nicht zuletzt auch ein politisches Schreiben. Deshalb ist es geradezu zwingend, dass ein Schriftsteller wie er seinen Blick in den Untergrund, den Widerstand lenkt. Dorthin also, wo Menschen aus der Sehnsucht nach Freiheit zum Handeln gezwungen sind. Und – weil Freiheit und Zwang schon immer ein seltsames Paar bilden – am Ende nur noch ums nackte Überleben kämpfen. Diese Extreme mutet Berger seinen Lesern zu wie sich selbst. Und das bedeutet: Auch die Verzweiflung des Terroristen interessiert ihn. Merkwürdig, dass man stutzt, weil diese Perspektive immer noch wie ein Tabu-Bruch wirkt. Wer aber Bergers Art, zu denken, verstehen will, wird den Schritt mitmachen müssen. Und sollte sich hüten, sofort mit Urteilen bei der Hand zu sein. Denn Berger, das ist seit je seine Stärke, bereitet seine Analysen als Geschichtenerzähler auf, dem keine Perspektive, auch nicht die dunkelste, fremd erscheint.

Flutende Fernsehbilder aus Nahost, denen man kaum mehr die nötige Aufmerksamkeit schenkt, bekommen in seinen klugen, mutigen Texten Kontur. In Standbildern beleuchtet Berger die toten Winkel der Welt.

 

Zitat:

In der schmalen Gasse eines Flüchtlingslagers kauern drei Jungen in einer Ecke am Boden und spielen Murmeln. Viele Flüchtlinge in diesem Lager stammen aus Haifa. Die Geschicklichkeit, mit der die Jungen eine Murmel mit dem Daumen schnippen, während ihr Körper unbeweglich bleibt, zeugt von der Vertrautheit mit sehr beengten Räumen.

 

Rezensentin:

Berger ergreift durchaus Partei und spricht vom „Würgegriff“ Israels. In Ramallah, Sitz der palästinensischen Autonomiebehörde hielt er sich eine Weile auf, um mit Kindern zu zeichnen. Viele seiner Beobachtungen und Schlussfolgerungen rühren von dort her. Einem schlichten Gut-Böse-Schema unterliegt Berger aber nicht. Denn es geht ihm in einem ganz wahrhaftigen Sinn um eine Form des Anteilnehmens, eine Empathiefähigkeit, die man nur mehr selten antrifft. Seine Ansichten, ein Zeitzeugentum, erzählen dabei nicht nur von heute, sondern auch von einer untergegangenen Welt.

 

Zitat:

Lange ist es her, da pflanzten frischverheiratete Paare in den Gärten Ramallahs Rosen als gutes Omen für eine gemeinsame Zukunft. Der Boden des Schwemmlands bekam Rosen.

Im Zentrum von Ramallah (…) gibt es heute keine Mauer, an der nicht die Bilder der Toten kleben – Fotos von ihnen, als sie noch am Leben waren, gedruckt als kleine Plakate.

 

Rezensentin:

Stets bewegt sich Berger in einem Terrain, wo ein Blick zu viel, ein überflüssiges Wort, den Eindruck dieser „Berichte“ ablenken und falsches Pathos hinterlassen würde. Das Faszinierende von Bergers Schaustücken aber ist, wie ihm dieser Drahtseilakt gelingt. Nie fühlt man sich als Voyeur, sondern sanft bei der Hand genommen von einem Erzähler, der unaufdringlich sagt: Hör zu! Was er dem großen Filmemacher Pier Paolo Pasolini, der 1975 ermordet wurde, in einem Gedenk-Text zuschreibt, gilt auch für ihn selbst:

 

Zitat:

Denn die Wirklichkeit ist das Einzige, was uns zu lieben bleibt. Etwas anderes haben wir nicht.

 

Rezensentin:

Aus diesem Untergrund, im ganz wörtlichen Sinn, aus Mauern, Steinen, Begegnungen, meißelt er wie ein Bildhauer seine stillen Beobachtungsstücke. Sie sind, weil sie immer nah am Wirklichen bleiben, deshalb auf den ersten Blick nicht metaphysisch. Und doch verweisen sie auf etwas, das hinter den abgenutzten Begriffen liegt. Vielleicht auch auf etwas Höheres. Berger gibt den Menschen ihre Würde zurück, ohne sich dabei selbst in den Vordergrund zu spielen.

 

Zitat:

In den Ruinen von Kabul sehe ich einen Mann nach Hause gehen, und ich weiß, dass trotz des Schmerzes die Findigkeit der Überlebenden ungebrochen ist. Es ist die Findigkeit des Herumstöberns und Kräftesammelns; und in der List dieser unerschöpflichen Findigkeit liegt ein spiritueller Wert, so etwas wie der Heilige Geist. Davon bin ich überzeugt inmitten dieses Dunkels, auch wenn ich nicht weiß, warum.

 

Rezensentin:

Der Band „Mit Hoffnung zwischen den Zähnen“, den Rita Seuß aus dem Englischen mit musikalischem Sprachgefühl übersetzt hat, versammelt Texte aus den vergangenen acht Jahren. Sie handeln vom Anschlag auf die Londoner U-Bahn vor dem G8-Treffen, vom Wüten des Hurrican Katrina, vom Sturz Saddam Husseins, vom Lebensweg einer alten Russin, die nach der Schlacht um Kursk entschied, Ärztin zu werden. Sie erzählen von der Trauer über den Tod eines Freundes und von der Ermordung eines anderen. Berger erhebt seine Stimme für politische Opfer, für die Menschen, die zum Schweigen gebracht wurden. Er gibt dem Blick von unten Raum, weil er weiß: „Die Mächtigen können keine Geschichten erzählen: Prahlereien sind alles andere, nur keine Geschichten.“ Dass er dabei eben nicht nur erzählt, sondern als Teilnehmender dieser Zeitgeschichte in ihr „liest“ und Missstände beim Namen nennt, auch wenn er manches zwangsläufig vereinfachen muss, macht diese Texte zu Fundgruben. Mit offenen, provozierenden, verletzlichen Stellen, wohl wahr – aber gerade darum geht es: Sie laden zum Weiterdenken, zum Recherchieren, zum Umdenken ein, weil sie nie prahlerisch sind, sondern Kunde von der Scham geben, Mensch zu sein und nicht sein zu dürfen. In diesem Sinne sind sie existentiell, wie viele frühere Arbeiten des Autors. Hinter verschleiernden Begriffen zeigt John Berger die Welt – seine Welt, die auch die unsere ist, wenn wir nur genau hinschauen würden.

 

 

Abmoderation:

John Berger: Mit Hoffnung zwischen den Zähnen. Berichte von Überleben und Widerstand. Aus dem Englischen von Rita Seuß. Wagenbach Verlag, Berlin 2008, 144 Seiten, 15,90 €.

Das englische Original erschien mit einer leicht veränderten Textauswahl 2007 unter dem Titel „Hold Everything Dear. Dispatches On Survival And Resistance“.

 

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