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Okt 30 18

Karl Friedrich Borée: Frühling 45

Claus Brunsmann

Frühling ’45 kurz vor Kriegsende in Berlin. Herr Stein ist mit Frau und 28jähriger Tochter mit letzten Habseligkeiten unterwegs, raus aus der Gefahrenzone im Stadtzentrum. Am äußersten Zipfel Berlins, vermutlich Frohnau nachempfunden, wo der Autor dieses Romans selbst letzte Bombennächte erlebte, wartet ein neues Quartier. „Wir gingen schweigend, zweifellos machte uns alle drei der Eindruck des anderen stumm; aber mich drosselte auch die Angst vor der abgründigen Unzuverlässigkeit der Dinge, die uns die Zeit gelehrt hatte.“ Ein Zeitzeuge schildert unsentimental und doch fesselnd diese Ausnahmezeit um die sogenannte „Stunde Null“. Er gewährt Einblicke in gerade noch geöffnete Büros oder in das letzte Restaurant, das noch auftischt, ein unwirklicher Ort mitten in Ruinen.

Die Atmosphäre des Niedergangs blitzt in Momentaufnahmen auf, während diese kleine, sich ständig erweiternde Überlebensgemeinschaft um Familie Stein die Villa eines geflüchteten Naziobersts bezieht: „Die Zimmer widersetzten sich uns. Wir kamen uns unanständig vor. Eine Wohnung ist ein weites Kleid; ich ziehe nicht gern fremde Sachen an. Vor allem nicht heimlich.“

Erstaunlich, dass man den Autor Karl Friedrich Borée kaum kennt. Geboren 1886, wächst er unter dem Namen Friedrich Karl Boeters in einem Görlitzer Arzthaushalt auf. „Borée“ nennt er sich nach der Großmutter. In Königsberg und Berlin arbeitet er als Jurist und schreibt: Romane, Essays, Artikel. „Frühling 45. Chronik einer Berliner Familie“ entstand 1948 entlang der Tagebücher. Es gilt als Borées Hauptwerk und ist allein aus sprachlicher Sicht eine echte Entdeckung. Borée verfügt über einen unwahrscheinlichen Wortschatz und Wortwitz. Er schreibt trocken, lakonisch, auch mal an den grässlichen Umständen implodierend. Er wirkt wahrhaftig und gegenwärtig.

Der Ich-Erzähler namens Stein ist Borée vermutlich zumindest geistesverwandt. Er ist die tragende Säule des Romans, ein sprachgenauer Feingeist, leidenschaftlicher Demokrat und Denker. Noch geht er täglich zur Arbeit im Archiv einer großen Berliner Bank, bis die Angriffe alle Gänge unmöglich machen. Sein Herz aber hängt an einer Kultur-Zeitschrift, die längst nicht mehr erscheinen darf. Spannend deshalb auch die geschilderten Umstände nach russischer Eroberung und Neusortierung. Im amerikanischen Sektor darf die Zeitschrift entstehen. Sie wird zum Sinnbild eines Neuanfangs. Tendenz: „ein Sozialismus im Namen der Humanität“. Stein will „einer Gesellschaft, die atomisiert war, die überhaupt keine Gesellschaft mehr bildete“, einen Unterbau schaffen. Der „Frondeur der Theorie“, wie er sich selbstkritisch nennt, lebt regelrecht auf, wenn er denken darf. Er grübelt über Begriffe wie „metaphysisches Schuldgefühl“. Und wenn er mit Schwebel, einem Bekannten, vorbereitend auf den Machtwechsel in diesen letzten Kriegswochen zum Russisch-Lernen zusammentrifft, läuft er gar zu diskursiver Hochform auf. Was für ein originelles Debatten-Duo! Schwebel kontert mit indischer Philosophie und entschuldigt vieles. Stein beharrt und hakt nach: War der Mord schon in der Welt? Oder haben die Menschen den Mord erst in die Welt gebracht?

Als „Frühling 45“ 1954 im Darmstädter Schneekluth Verlag erscheinen konnte, waren Fragen nach Schuld noch wenig erwünscht. Dass der Autor so verschwand, liegt also auch am unglücklichen Zusammentreffen von Zeit und Werk. Borées Erstling, die Liebesgeschichte „Dor und der September“ (1930) ist noch ein Verkaufsschlager, gepriesen etwa von Vicky Baum. Danach wird es schwer. 1936 veröffentlicht der im Ersten Weltkrieg lebensgefährlich Verwundete den Antikriegsroman „Quartier an der Mosel“, der verboten wird. Weitere Werke sind unverfänglicher, was nicht heißt, dass er sich anpasste. Das Hadern mit sich selbst und die unablässige Suche nach Gründen für die Verführbarkeit der Menschen prägt seine Werke. „Diesseits von Gott“ (1941) ist ein Aufruf zur Humanität. „Ein Abschied“ (1951) erzählt vom Untergang Königsberg. „Semiten und Antisemiten“ (1960) ist ein Gedenk- und Erinnerungsbuch an Freunde und Bekannte mit jüdischem Hintergrund, das auch radikal die eigene Rolle hinterfragt. Nach dem Krieg geht Borée, seit 1946 Mitglied der SPD, gegen die neuen Diktaturen im Osten vor. Als Theaterkritiker, Kolumnist und Mitglied verschiedener Schriftstellerverbände bezieht er Stellung. Nach seinem Tod 1964 in Darmstadt – er litt an Parkinson – geraten seine Werke in Vergessenheit.

Ein Glück also, dieses Dokument einer Umbruchszeit wieder lesen zu können. Es ist Lebensphilosophie und hautnahe Alltagsbeschreibung, gefiltert von einem Erzähler, der nicht recht weiß, ob er die Menschen lieben oder verachten soll. Aus diesem ambivalenten Blickwinkel heraus sammelt er nicht nur Trümmerbilder, sondern auch „Glücksgüter“: Eine geschenkte Zigarre. Eine Extraration Brot. Einen schönen Morgen mit viel Sonne.

Porträts und Dialoge sind Borées Stärke. Mit wenigen Strichen macht er die Figuren so leibhaftig, dass man mit ihnen lebt und leidet. Da ist Flitta, die Haushälterin der Vorgänger; da ist Maximiliane, die Tochter, „täglicher Anlass zu Vergnügen und Freude“; oder Frau Busch, Steins Sekretärin, die er aus Trümmern holt und kurzerhand bei sich einquartiert. Oder Kordysant, der das allgemeine Chaos nutzt und als falscher Arzt praktiziert. Borées Prosa kennt viele Färbungen. Da ist der Reportagenton und journalistische Kurzsätze wie „Der Tod würfelte. Die Nerven zitterten.“ Sie stoßen einen erbarmungslos in die Wunde der Stadt. Dann wieder die humane Botschaft und unverstellte Empathie: „All diese Jugend, deren Seide der Krieg sozusagen beiläufig verschliss, zerschnitt mir das Herz.“ Es gibt auch zeittypisches Pathos, wenn das Neue sich ankündigt. „Mir war, als ob wir aus dem Gebirge in die Ebene getreten wären.“

So kommt in diesem emotionalen Wechselbad alles scharf nebeneinander zu stehen: Die Nächte im Keller und die „neuen Wörter“ der Zeit; „Bombenteppiche, Flächenbrände, Nachtschlachtflugzeuge“; die vielen kleinen Gesten einer Nächstenliebe, ohne gegenzurechnen; aber auch der hamsterische Egoismus einer Bevölkerung, die im Durcheinander der Verhältnisse zur ängstlichen, gierigen Herde wird. „Alles lebt von der Nachahmung, vom Gruppenbild“, begründet Stein einmal die fehlende Moral. „Die Menschheit ist nicht schlechter geworden, sondern sie ist nackt geworden.“

Die Fülle an Details lässt an den beklemmenden Roman „Finale Berlin“ von Heinz Rein denken, 1947 erschienen, eine der großen Wiederentdeckungen der vergangenen Jahre. Borées Blick „vom Rand der Dinge, doch nicht außerhalb ihrer Bannmeile“ ist ganz anders im Ton; subjektiver und zurückhaltender, wenn man so will. Gerade das macht „Frühling 45“ aber auch jenseits der Kulisse von Zerstörung und Neuanfang überzeitlich und relevant. Axel von Ernst, der mit Viola Eckelt den Lilienfeld Verlag leitet, konnte überdies Borées Sohn ausfindig machen, der biographische Informationen beisteuerte, die das Marbacher Archiv, wo Borées spärlicher Nachlass liegt, nicht hatte. Pionierarbeit also. Man darf gespannt sein auf wiederzuentdeckende weitere Werke dieses originären Autors.

Karl Friedrich Borée: Frühling 45. Chronik einer Berliner Familie. Roman. Mit einer Nachbemerkung zum Autor. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017. 461 Seiten, 24,90 €.

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG,  Januar 2018

Okt 30 18

Hanns-Josef Ortheil: Der Stift und das Papier

Claus Brunsmann

Hanns-Josef Ortheil, geboren 1951, ist der Schriftsteller, der nicht sprach. In „Die Erfindung des Lebens“ (2009) erzählt er eindrucksvoll, wie er im dritten Lebensjahr verstummt war, zusammen mit der Mutter. Sie hatte während des Krieges und danach vier Söhne verloren. Vielleicht imitierte er sie. Vielleicht körperte sich die Trauer der Mutter tief in den einzig verbliebenen Sohn ein. Wie aber fand „das mutistische Kind“, so die heute gebräuchliche, kühle Diagnose, in das Sprechen wieder hinein und wurde schließlich der renommierte Autor so vieler Romane, die das Leben besingen?
 Das erzählt nun „Der Stift und das Papier“, ein Buch, allen Vätern ans Herz gelegt, obwohl die Geschichte als Gegenpart genauso unbedingt auch den guten Sohn braucht. Es ist also die Geschichte vom guten Vater und vom guten Sohn. Sie beginnt im Westerwald, wo der Vater gerne in seiner Jagdhütte sitzt und großformatige Baupläne für seine Arbeit als Geodät, als Vermesser zeichnet. Ein heiliger Ort, den der Sohn normalerweise nicht betritt. Diese besonderen Sommerferien aber doch. Es gab nämlich zuvor in Köln, wo man zu dritt wohnt, ein Lehrergespräch, an dessen Ende dem Vater mitgeteilt wurde, dass es so nicht ginge mit dem Sohn in der ersten Volksschulklasse. Er hatte zwar wieder zu sprechen begonnen, von einem Tag auf den anderen, nachdem der Vater mit ihm viel Zeit im Wald verbrachte und ihn alles, was er sah, zeichnen ließ. Aber der Junge komme nicht mit. Er müsse Lesen und Schreiben lernen und ansonsten in die Sonderschule.
Der Vater lässt sich davon keineswegs unter Druck setzen. Er gibt den Druck auch nicht an den Sohn weiter. Im Gegenteil schafft er in den anstehenden Ferienwochen in der Jagdhütte aus Geduld, Beziehung und Zurücknahme seiner selbst eine besondere Atmosphäre. Zunächst allein durch Pauspapier, das er auf den Tisch heftet. Hanns-Josef darf Kreise darauf malen, so viele, bis sie ein Himmel sind, mit farbigen Buntstiften und Bleistiften, die gut in der Hand liegen. Warum nicht einfach den Bleistift beschreiben? „Hauchdünn“ steht darauf, ein schönes Wort. Im Hintergrund läuft Klaviermusik, ein bisschen Bach, ein wenig Händel. Essen und Trinken bleiben draußen. Die Jagdhütte ist ein Raum der Konzentration und bald auch der Kontemplation. Einige Stunden und Tage und Wochen später hat der Junge so viel Gemüse abgezeichnet, Radieschen, Rettiche, Kürbisse, das Wetter beschrieben und was er am Morgen gefrühstückt hat, dass sich neben dem Arbeitstisch im Wandregal kleine, quadratisch ausgeschnittene Zettel stapeln, „ein Archiv“, freut sich der Vater, und der Sohn fragt nach: „Ein Archiv?“
Hier nun muss man kurz innehalten, um wirklich würdigen zu können, was diesen Vater auszeichnet. Er hebt jetzt nicht etwa bescheidwisserisch mit Erklärungen und Definitionen darüber an, was ein Archiv sei, sondern sagt schlicht: Beschreib es doch einmal, in deinen eigenen Worten. Die Formulierung, die sich dann findet, ist so schön und genau, dass sie aufgeschrieben gehört, „damit wir sie nicht vergessen“, und man merkt schon: Da ist er, der Keim jener Besessenheit, die Schriftsteller auszeichnet, Ortheil insbesondere, der bis heute wahrnehmend und aufschreibend lebt. Diese Lebensform scheint hier gegossen, in der Jagdhütte zwischen Stift und Pauspapier, in der Beziehung zwischen einem Vater und seinem Sohn. Ist genug gearbeitet in der Schreibschule, tönt nicht etwa ein Pausengong, sondern der Vater sagt: Jetzt wollen wir alles eine Weile vergessen. Dann freuen wir uns später umso mehr.
Die Lebenswirklichkeit des Jungen erhält in diesen von ihm selbst gefundenen
ureigenen, genauen Formulierungen eine Tiefenschärfe, wie sie kein Schulbuch mit langweiligen Diktaten vermitteln kann. Alles ist für ihn plötzlich greifbar, so, als baumelten an jedem Ding und jedem Gedanken einzelne, beschriftete und bemalte Schilder. So beschreibt es Ortheil einmal. Und man kann sich die Konfusion und Dunkelheit der „unheimlichen Zeit“ davor nur annähernd ausmalen, wenn er andeutet, er habe sich ein Küken grün vorgestellt, wegen des gemeinsamen Lauts „ü“. Noch heute habe er Angst, dass dieser Zustand wieder beginnt. Diese Angst schlägt die Brücke in eine Vergangenheit, die selbst wie durch Pauspapier sichtbar wird: leicht verschleiert, weil einem der Verstand beim Lesen streberhaft zuflüstert, dass Erinnern auch Umbauen und Neuordnen bedeutet. Aber warum auch nicht? Und wie schon in den anderen autobiographisch gefärbten Büchern, „Die Moselreise“ oder „Das Kind, das nicht fragte“, ist alles leicht und behutsam und mit einer Langsamkeit erzählt, die dem faszinierenden Vorgang des Ins-Leben- Gehens angemessen erscheint. Ortheil muss sich dabei nicht einmal anstrengen. Er ist wieder „das Kind, das schreibt“ und muss nicht in dritter Person erzählen, wie noch in der „Erfindung des Lebens“. Er schreibt dieses Buch in der Jagdhütte, und alles ist in rascher Folge wieder da.
Gerade weil es nie ums Erfinden, nie ums Schriftstellerwerden ging, hatte die- se unbefangene Schreibschule des Vaters große Wirkung. Zum einen traf sie überraschenderweise auf einen wortbereiten und wortbegeisterten, mitmachenden Sohn und dessen Formuliertalent. Zum andern lebte sie von ungewöhnlichen Ideen. Heute würde man sagen: Sie installierte Kulturtechniken. Die Ortheils sprachen von „Tagesseiten“, die sie aus den gesammelten Papieren mit ausgeschnittenen, selbstbeschrifteten Lieblingszeitungsfotos erstellten: Verdichtungen bis zum „Wochengedicht“, das sieben Tage in wenigen Zeilen erinnerbar machte. Man kann diese wachsende Chronik hervorholen und anschauen. Auch dafür wird extra Zeit einberaumt. Dem Jungen, der zuvor in der Zeit schwamm, gibt die in eigenen Worten festgehaltene Zeit neuen Halt. Bis heute pflegt Ortheil Tagesnotizen, die Material für Romane werden können. Die Lehrstunden zum kreativen Schreiben an der Hildesheimer Universität, an welcher er seit 1990 unterrichtet, sind möglicher- weise auch ein Vater-Memorial.
Fast entschuldigend fällt das Wort „genial“. Der Vater, der in der „Moselreise“ seinen Sohn durch Ortswechsel rettete, schien pädagogische mit psychologischen Fähigkeiten spielerisch vereint zu haben. Vor allem aber hat er eine funktionierende Beziehung zur Verfügung gestellt. Und so kann die Privatschule, die keinem Kanon dient, ausgebaut werden. Erste Dialoge und Szenen entstehen. Besondere Wörter wie „Haudegen“ werden „bestimmt“ wie seltene Pflanzen. Die Welt wird zu Wörtern und umgekehrt. Man vergisst fast, dass alles aus der Not geboren war, dass es nie um Literatur, sondern ums „Normalwerden“ gegangen war. Die Prüfung zum Schuljahresbeginn besteht der gelehrige Schüler mit links. Verzaubert aber hat ihn kein Lehrplan, sondern die Schreibzeit in der Hütte.
Gerade rechtzeitig stößt dieses Buch aus dem fast sakralen Raum einer gelingenden Vater-Sohn-Geschichte in die wortlosen Suchbewegungen des Heranwachsenden vor. Die bundesrepublikanischen Fünfziger staffieren diese Innenkulisse mit jener vergilbten Farbe aus, die dem Erzählten zuträglich ist. Der Junge, der schreibt, muss damit ja noch an die Öffentlichkeit. Erste Leserin ist die Mutter, zweite schon Andrea, eine Mitschülerin, der eher an heimlichen Treffen gelegen ist, was der Gleichaltrige naturgemäß nicht gleich begreift. Das heimliche Schreiben entzieht sich mit dem Erstabdruck dreier Miniaturen in der örtlichen Zeitung allmählich dem engen Kreis der Eltern. Die Loslösung beginnt. Bäckersfrauen und Metzger wissen nun vom „Kind, das schreibt“. Geradezu befreiend wirkt Ortheils abschweifendes Erzählen entlang dieser Schreibbiographie hin zu Fragen um Ruhm, Medialisierung, Besessenheit. Er bewegt sich aus der „peniblen Exaktheit“, welche die väterliche Statistikberechnung charakterisiert, in den weiten Raum der Reflexion und Selbstzweifel hinaus; vom Zirkelkasten der Jagdhütte in die leisen Verwirrungen neuer Hürden. Und das Kind wie das Buch beginnen zu atmen, als endlich von Mitschülern wie „Manni“ die Rede ist, vom Schreiben für Zeitungen und zuletzt vom „Weiterschreiben“ – schließlich auch gegen das Klavier, denn lange bleibt unentschieden, ob Ortheil Pianist wird oder Autor.
Man weiß, wie der Kampf ausgeht und hat manches in Variationen schon anderswo gelesen. Und doch berührt am Ende die Erkenntnis, dass Schreiben die Einsamkeit des stummen Kindes reinszeniert. Diesen dunklen Raum, den Kreativität zu entgrenzen vermag, erforscht „Der Stift und das Papier“.

Hanns-Josef Ortheil: „Der Stift und das Papier“. Roman einer Passion. Luchterhand Verlag, München 2015. 384 S., geb., 21,99 €.

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, Februar 2016

Jan 30 18

Thema Lieblings-Romanfigur: Bastian Balthasar Bux

Claus Brunsmann

Lesen kann ein durch und durch körperlich ergreifender Vorgang sein. Das erleben wir an keiner Romanfigur so deutlich wie an Bastian Balthasar Bux, dem „kleinen, dicken“ Jungen, der in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ eben diese einem Buchhändler entwendet. Versteckt auf dem Speicher seiner Schule, versinkt Bastian buchstäblich in der Welt, von der er dann liest: Phantásien, ein Land in tiefster Depression, bedroht vom Nichts, das Körperteile und ganze Wesen verschluckt, weil die Menschen das Fantasieren verlernt haben. Bastian schluchzt, als Atréjus Pferd in den Sümpfen der Traurigkeit versinkt. Und er stößt einen Schreckensschrei aus, als Atréju mit der Riesenspinne Ygramul um das Leben des Glücksdrachen ringt – einen Schrei, den man bis in die Schlucht hört, von der Bastian doch nur liest. Kann das sein? Ganz allmählich verwandelt sich Bastian vom passiven Rezipienten zum überaktiv Agierenden, und das nicht ganz unfreiwillig: Seine Mutter ist tot, der Vater unter der Trauer wie eingefroren, die Schule ein Hort von Quälern. Flucht ist Bastians innigster Wunsch. Da trifft es sich gut, dass er in die Geschichte hineingerufen wird, um Phantásien zu retten. Auf sein Geheiß wächst erst Perélin, der Wald, dann die Wüste Goab. Ab hier wird er zunehmend unangenehm, ein niemals sattes Kind mit Riesenwünschen, dessen Größenwahn niemand stutzt. Die Sympathieträger des Romans, Atréju und der Glücksdrache Fuchur, verjagt er. Wie kann er nur! Er kann – weil mit jedem Wunsch seine Erinnerung an das alte Leben schrumpft. Fast wäre er in Phantásien geblieben, als irrer Geisteskranker ohne Entwicklung. Doch es gibt während seines Austobens eine Eigenschaft, die uns mitleiden lässt und die Atréju sofort erkennt – das erste Mal, als er Bastian als Spiegelbild sieht, und all die anderen Male, wenn er selbstlos zur Stelle ist, um dem Gleichaltrigen zu helfen: „Die Augen des Jungen waren groß und sahen sehr traurig aus.“ Bastian ist im gleichen Maß normal wie Atréju übernatürlich gut ist. Fast vergisst man, dass Bastian selbst nur eine Romanfigur ist. Michael Ende prüft ihn bis aufs Mark. Bastian muss Vater und Mutter vergessen, schließlich sogar seinen Namen. Nackt und bloß taucht er in die Wasser des Lebens, nicht wissend, ob es ihn selbst in Wirklichkeit gibt. Seine Versenkung ins Buch ist gefährlich, seine Rückkehr in das alte Leben unsäglich lange ungewiss. Aber dank „Änderhaus“ (wie außerordentlich praktisch!) und vieler großmutiger Wissender lernt er beim Grenzübertritt „Herzensfrohheit“. „Er war geduldig und still geworden.“ Zeit, Phantásien zu verlassen.

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG,   2009

Okt 30 16

Edmund de Waal: Scherben machen glücklich

Claus Brunsmann
Edmund deWaal

Edmund de Waal, Keramikkünstler und Autor, lädt zu einer Reise durch die Geschichte des Porzellans.

 

Eines vorweg: Eine Porzellan-Teeschale wird man nach diesem Buch mit Anmut benutzen – sofern man es nicht schon tut. Man fühlt und würdigt die Herkunft des über tausend Jahre alten Materials. Dessen Geschichte erzählt hier ein Fachmann: Der britische Keramiker Edmund de Waal. Seine kunstvollen Objekte stehen in Museen. Als Dozent an der University of Westminster in London ist ihm die Weitergabe des Wissens ein Anliegen. In seinem neuen Buch „Die weisse Strasse“ reist er auf den Spuren seiner Leidenschaft bis nach China und zurück zu Orten in Sachsen und Cornwall.
Dass er spannend und bildstark schreiben kann, hat er bereits in seinem erfolgreichen Roman „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ (2011) über die bewegte Geschichte seiner Familie Ephrussi bewiesen. Diese Achtsamkeit im Umgang mit Worten zeichnet auch jetzt seinen Stil aus. Unterhaltsames, etwa dass „porcellani“, der Spitzname der Kaurimuscheln, einst von venezianischen Jungs hübschen Mädchen hinterhergerufen wurde, verbindet sich mit Beschreibungen des Handwerks und seiner meditativen Komponente. Die Drehscheibe war bereits für den fünfjährigen Edmund de Waal in Canterbury „ein Versuch, einen kleinen Teil der Welt zur Ruhe kommen zu lassen“. Die Farbe Weiss spielt in seinem Werk eine grosse Rolle. Warum – das will er verstehen. Das „Arkanum“, das Geheimnis um das Rezept lockt ihn, jenen Glücksstoff zu erkunden, den Keramiker den „Scherben“ nennen.
Der venezianische Händler und Weltreisende Marco Polo erwähnte 1291 erstmals im Westen Porzellanschalen. 500 Jahre lang wusste niemand, was das eigentlich ist. Ein „Saft, der unter der Erde aushärtet“, wie ein italienischer Astrologe im 16. Jahrhundert spekulierte? Oder eine Mischung aus Eierschalen und Schnecken? Manche sprachen gar davon, dass das „weisse Gold“ aus geheimnisvollen Hügeln stammt, die bis zu vierzig Jahre ruhen müssen. Das Material, das in Formen gegossen oder beim Drehen unter Meisterhänden dünner und dünner werden kann, „wie Blattgold“, das „in die Luft emporflattert“, sauber und weiss, ist tatsächlich ein zauberhafter Stoff: „Es ist leicht, wo die meisten Dinge schwer sind. Es ist hell, wenn man daran klopft. Man kann das Sonnenlicht durchscheinen sehen.“ Wer wäre da nicht besessen?
Porzellan besteht vorwiegend aus zwei verschiedenen Mineralien. Aus Feldspaat, dem „Fleisch“. Und aus Kaolin, der Porzellanerde, dem „Knochen“. Es wird bei grosser Hitze gebrannt. Zu verstehen, warum diese Verbindung das aushält, ist Antrieb für de Waals Recherchereise. Antworten und „Gralsmomente“ findet er auf verlassenen Abbruchhalden in China. Oder an Flüssen, wo früher die Kaolinerde vom Berg auf Bambusflüssen die Wasserwege hinuntergesteuert wurde. Und natürlich in Jingdezhen, seit 1700 Jahren chinesische Hauptstadt des Porzellan. Einst arbeiteten hier Mischer, Mahler, Korbflechter bis hin zu „Aschenmänner“ und den Wachen der kaiserlichen Manufaktur. Es gab Arme oder Blinde, die ihr Leben damit zubrachten, Farbpigmente zu zerstampfen. Alte Listen verzeichnen 23 unterschiedliche Berufe.
Es sind solche kleinen Informationen am Rand, welche die Welt des Porzellans aus Stollen und Städten auch für Laien auferstehen lassen. Wie schon in de Waals Roman, für den eine Sammlung kostbarer, japanischer Miniaturanhänger, sogenannter „Netsuke“, Impulsgeber war, werden auch hier Objekte zu Geheimnisträgern. Der Autor als Entdecker – das ist eine gewinnbringende Erzählperspektive. Edmund de Waal doziert nicht, sondern gibt einem die Stücke in die Hand und lässt fühlen; zum Beispiel die übermässige Bauchung eines alten Porzellangefässes. Dahinter verstecken sich Geschichten, die das Verlorene bergen. Das Pathos, das manchmal mitschwingt, ist da genau richtig am Platz.

 

erschienen in der NZZ am Sonntag, 2016

Okt 30 16

Amélie Nothomb: Die Kunst, Champagner zu trinken

Claus Brunsmann

Alkohol kann schon mal die Sinne vernebeln. Aber einen Orgasmus auslösen? Das zumindest samt Halluzination suggeriert die belgische Schriftstellerin Amélie Nothomb in ihrem neuen Roman „Die Kunst, Champagner zu trinken“. Rausch war ja mal eine antike Praxis, elitär und zu unrecht vulgär in Verruf geraten. Auf der Suche nach einer Saufkumpanin, welche die Vorliebe für das alle Sinne hochfahrende Elixier teilt, gerät Amélie Nothomb, die sich selbst auftreten lässt, an die viel jüngere Schriftstellerin Pétronille. Die erweist sich – beschäftigt mit einer Doktorarbeit über Shakespeares Zeitgenossen – überdies als belebende Gesprächspartnerin. Man trifft sich in unregelmäßigen Abständen, sogar mal zum Skifahren, das perlende Getränk immer griffbereit, akrobatisch balanciert und getrunken während der Abfahrt (Pétronille), worüber die Amélie Nothomb im Roman nicht schlecht staunt. Diese Szene ist nur eine unter den witzigen Begegnungen und Dialogen. Sie inhaliert bereits das tollkühne Gift, das Nothombs Roman aus der Leichtigkeit des rein unterhaltsamen Lesens in die puderige Wirklichkeit handfester Identitätskrisen und Konkurrenzkämpfe hebt. Gut, dass es in solchen Fällen Freundschaften wie die hier geschilderte gibt: distanziert, weil man nicht alles voneinander weiß und Gejammer über enttäuschte Lieben etwa gänzlich ausgespart ist; dabei aber doch von einer seltenen Intimität, wie sie manchmal auf Pflegestationen zu finden ist. Pétronille, ein linkspolitisch engagiertes Kind kommunistischer Eltern, setzt sich schon mal zum Pinkeln zwischen Autos, von Amélie geschützt, die so was nicht kennt, weil vornehmer aufgewachsen. Bald mag sie auf die neue Freundin nicht mehr verzichten. Aber die geht eigene Wege, sogar für Monate in die Sahara. Die erfolgreiche Ältere soll derweil ihr Netzwerk bemühen und Pétronilles‘ Meisterwerk zur Veröffentlichung bringen. Erfolg scheint der jederzeit frech auf Augenhöhe konternden Intellektuellen aus der Pariser Banlieue schnurzegal; wie ihr überhaupt Etikette erfrischend wenig gilt. Spätestens hier erweist sich dieser schmale, feine Roman als Feier der Kontraste und der Leidenschaft an sich. Jenseits rauschhaft erlebter Beziehungen aller Art ragt er wie eine sprudelnde Säule heraus und erzählt von Lust und Leid der Abhängigkeit im Allgemeinen. Er tut das auf solch charmant-nebensächliche Weise, dass man sich gefahrlos darauf einlassen kann – um am Ende erstaunt festzustellen, wie tief man hineingeraten war.

 

Amélie Nothomb: Die Kunst, Champagner zu trinken. Diogenes Verlag, Zürich 2016. 144 Seiten, 20 €.

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 2016

Jun 30 15

Pierre Bost: Bankrott

Claus Brunsmann

Gute Unternehmerromane zeichnen sich dadurch aus, dass sie beides tun: die Strukturen der Machtapparate ausleuchten; und Charakterstudien liefern. Der französische Autor Pierre Bost (1901-1975), in den zwanziger bis vierziger Jahren äußerst erfolgreicher Autor und Journalist und glücklicherweise gerade wiederzuentdecken, verzaubert überdies noch mit seiner Sprache. Sie klingt auch in der deutschen Übertragung von Rainer Moritz prächtig – nach „Ein Sonntag auf dem Lande“ jetzt in dem Roman „Bankrott“, der 1928 erstmals erschien. Erzählt wird vom Leben des Zuckerfabrikanten Brugnon, ein linkischer, cholerischer 45-Jähriger mit allerlei Marotten und einer ausgesprochenen Neigung zur Grübelei. Oft mit scharfzüngiger Prägnanz und Komik von außen geschildert, lässt er sich betrachten und als Teil eines Systems analysieren, das nur die Starken durchwinkt. Das, was wir heute Burnout nennen würden, zeichnet sich bereits auf der ersten Seite ab: „Der einzige Traum, den er sich eines Tages erfüllen wollte, bestand darin, jeden Morgen an die Arbeit zu gehen, sich eine Pause von einer Stunde zu gönnen, danach weiterzuarbeiten und schließlich sehr spät am Abend damit aufzuhören.“ Zunächst läuft es gut für ihn. Er genießt die Macht und Sitzungen, in denen er die Macht spürt: „Er fühlte sie ganz genau, so wie man seinen Brustkorb spürt, wenn man seine Weste zuknöpft.“ Doch die Liebe verwirrt bald schon seinen klaren Blick. Er verpasst Termine, wird fahrig und zunehmend Opfer seiner Gefühlswelt. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis alles in düsterster Apokalypsenstimmung endet. In den Worten Pierre Bosts: „Und der Fluss trieb wie ein Ertrunkener langsam auf ein grauenerregendes Meer zu.“ Anziehend ist diese Prosa, weil sie die emsige Betriebsamkeit einer typischen Arbeitswelt der zwanziger Jahre einfängt, die nicht zuletzt einen neuen Frauentypus hervorgebracht hat – hier verkörpert durch Simone. Brugnon darf sie wohl ins Theater begleiten, mehr aber nicht. Das neue Selbstbewusstsein schlägt ihm hart entgegen. Zugleich wirkt der Roman in seiner expressiven Sprache und den vielen Überforderungsszenen überraschend modern, was ihn zu einer ausgesprochen heutigen Lektüre macht.

Pierre Bost: Bankrott. (Original: Faillite) Roman. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Rainer Moritz. Dörlemann Verlag, Berlin 2015. 260 Seiten, 19,90 €.

erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 2015

Jul 30 14

Reportage: Yoga-Wohlfühlurlaub in der Casa el Morisco

Claus Brunsmann

„Weichei“. So das Urteil unserer 16jährigen Tochter. Ich habe ihr ein Foto von ihrem Vater geschickt, wie sie ihn noch nicht kennt: im Lotussitz, die Hände locker auf den Knien, die Handflächen nach oben geöffnet. Die Augen geschlossen, lächelnd. Eine friedliche Szene. Er sitzt auf einem kleinen Kissen in einem achteckigen Tempel, vor ihm ein Teich. Die Kois darin kann man auf dem Foto nicht sehen, aber sie sind zu vermuten. Eine Katze schleicht um uns herum, es duftet süßlich, hinter uns wächst ein märchenhaft fremder Baum, Frangipani, wie ein Etikett verrät, mit fleischigen, glatten Greifästen, die senkrecht aufgestellt sind, die Blüten sind schon zu erkennen, aber noch versenkt in kleinen Mulden an den Astspitzen. Spanien, Benajarafe, was „Sohn des Edlen“ bedeutet, 20 Kilometer östlich von Málaga, Andalusien. Unser erster Tag in der Casa el Morisco, die wir in acht Tagen ganz gegen unseren sonstigen Besichtigungswahn kaum verlassen werden, nur einmal für eine Küstenwanderung, die ein drahtiger 88-Jähriger führt, von dem noch die Rede sein wird. Die Szene fürs Foto ist gestellt, reine Provokation. Mein Mann hat weder Yoga- noch Meditiererfahrung, ich von beidem ein wenig. Ich falle hier nicht auf, eine von etwa 36 Frauen, die in dieser Osterwoche Urlaub im Paradies machen. Der Exot ist – mit drei anderen seiner Spezies – mein Mann. Jeder, der ihn begrüßt, betont sein Mann-Sein und entschuldigt sich danach sofort. Natürlich gilt hier Gleichbehandlung. Aber man freut sich eben doch über Mann. Unsere Heidi-Klum-sozialisierte Tochter hätte ihn lieber im Fitnessstudio gesehen, wenigstens auf dem Crosstrainier, Schwergewichte müssen nicht sein. Aber Yoga?

Der Grund dafür heißt Hie Kim. Wir hatten ihn bei Indigo entdeckt, einem Veranstalter „mit besonderen Reisen für besondere Menschen“, „die sich intensiver spüren möchten“ und „lieber eigenverantwortlich als fremdbestimmt“ leben. Ich googlete eigentlich nur so herum, aber mein Mann klickte das Video an, das Hie Kim als akrobatischen Athleten zeigt – auf, neben und über seiner Yogamatte schwebend, die er mitten in Frankfurt, wo er Yogalehrer ist, vor der Uni ausgerollt hat, um auch diese Klientel anzusprechen, wie er später verrät. Hinter ihm laufen Menschen gehetzt zur Arbeit. Die wenigsten bemerken ihn. Er steht für Sekunden kühn und leicht auf einer Hand, konzentriert, das Bein gestreckt, dann biegt er sich in eine neue Haltung, alles an ihm fließt, und so heißt diese Choreographie auch, „Flow“, wie wir diese Woche von ihm erfahren. „Da will ich hin“, sagt mein Mann, und ich ergreife die Chance, obwohl mich die Performance eher verschreckt.

Die Mittagsblumen schließen sich, das Abendessen, vegetarisch, schmeckt wunderbar. Man kann das Meer sehen, oder in die Küche hineinhören, wo die spanischen Köchinnen bei der Arbeit selbstvergessen singen, zum Radio, das ständig „Macarena“ bringt. Die Anlage geht über drei Terrassen, und manchmal sehen wir Wilfried, den Gründer, der 1993 hier Land kaufte und Gebäude zu den bereits bestehenden dazubaute. „Wir gehören keinem Glauben an, alles ist Leben“, heißt es bei der Begrüßungsrunde in der großen Yogahalle, die noch zwei kleinere Schwesternhallen hat, alle mit dem Schriftzeichen für „om“ versehen. Wir haben sie nicht gezählt, die Buddhas, die überall stehen, versteckt in Nischen oder selbstbewusst präsent, groß und winzig, mit Teelichtern, die abends eine freundliche, stille Kharma-Yogini angezündet hat, die hier Dienst versieht gegen Kost und Logis. Bei jedem Gang entdecken wir etwas Neues. Ein Herz, aus Kieselsteinen gelegt. Eine Schale mit Blüten. Eine Glaskugel, aus der ein Kopf lächelt. Klangrohre in einem Wurzelbaum. Die abgerundeten Steinbänke zieren farbenfrohe Mosaike. Überall laden Liegen oder Hängematten zum Verweilen ein. Wer Lust hat, springt eine Runde Riesentrampolin und danach ins Pool. Zur Dämmerung, wenn die Vögel im Chor singen, als hätten sie sich verabredet, öffnen sich die Pflanzen für eine weitere exzessive Riechrunde. Der Sinnesgarten, erzählt eine Infotafel, ist das Resultat Vieler, die sich mit Ritualen einstimmten, bevor sie ihn planten und verwirklichten. Nachts hört man manchmal mechanisch in regelmäßigem Intervall einen Laut. Ich halte ihn für eine Maschine. Aber es ist das vermutlich einzige zwangsneurotische Wesen hier weit und breit, ein Wiedehopf in der Balz, so Gerhard, der 88-Jährige, von dem noch die Rede sein wird.

Hie Kim ist ein Glücksgriff. Mit jugendlichem Charme und respektvollem Witz treibt er seine kleine Schar – wir sind acht – aus der Komfortzone heraus. Ich kenne Yoga anders und bin darauf gefasst, gefühlte fünf Minuten in das rechte Bein hineinzumeditieren, bevor ich es heben darf, um es dann lange zu halten. Nach dem Absetzen spüre ich normalerweise lange nach: Was hat diese Übung wohl mit mir gemacht? Wie mich verändert? Bei Hie komme ich gar nicht zum Grübeln, und das erweist sich als völlig neue Yoga-Erfahrung. Ich komme nicht mal dazu, mich über den Ehrgeiz meines Mannes lustig zu machen, den Hie ständig bewundern soll. Am dritten Tag ist der „herabschauende Hund“, eine Übung, die uns vorher den Schweiß auf die Stirne trieb, Entspannung pur, nur eine Zwischenstation vor weiteren freiwilligen Selbstquäleinheiten, deren Effekt jedesmal sofort spürbar ist, als, sagen wir, eine Art fröhliche Gestimmtheit. Am fünften Tag will ich den „Flow“, den Hie uns beigebracht hat, in ein tägliches Übungsprogramm zu Hause einbauen, wie Essen und Trinken, in Stille oder zu dem Lied „You Make It Real“ von James Morrison. „Mir“, sagt Hie Kim dazu, „macht das Lied Mut. Du kannst alles schaffen. Wenn du willst.“ Nichts wirkt auswendig gelernt, alles wird begründet, falls man nachfragt. Vieles hält er auch zurück, zum Glück. Dass er sich bei uns dafür bedankt, dass wir ihm vertrauen und er uns etwas beibringen darf, habe ich noch nirgendwo zuvor erlebt.

„Yoga als Spiegel deines Lebens“ heißt das Seminar, zwei Stunden morgens ab acht Uhr vor dem Frühstück, zwei Stunden am späten Nachmittag. Jede Einheit ist anders. Die „Asanas“ genannten Haltungen tragen einprägsame Namen, Kind, Kobra, Hund, Krieger, Taube, Tänzer. Hie drückt mal Schultern in die richtige Position oder verstärkt sachte eine Dehnung. Wir lachen viel, vielleicht aus purer Erschöpfung, oder weil Hie sagt, wir sollen uns vorstellen, wir wären Glühwürmchen, denen nichts wichtiger ist, als den Po mit vorbildlicher Pospannung gen Himmel zu strecken. Klingt albern, aber hilft. Hie Kim achtet sehr genau auf Details. Freundlich klopft er unsere Schultern, wenn es nicht mehr geht und wir eine Pause einlegen. Oder er sagt erstaunliche Sätze in die meditative Anfangs- und Endsequenz. „Du bist alleine in deinem Kopf. Allein ist etwas anderes als einsam. Du kannst froh sein, dass du alleine in deinem Kopf bist.“ Eine Teilnehmerin sagt: „Der hat ein altes Wissen.“

Hie Kim, 28, hat koreanische Wurzeln. Er ist in Hamburg aufgewachsen und unterrichtet seit fünf Jahren Yoga, vor allem den Inside-Stil des Frankfurter Studios gleichen Namens, wo er in einem großen Team arbeitet. Er hat Sport studiert, ist Träger des zweiten Dan im Taekwondo und Mitglied des Taepoong Demoteams. Auch da hat er schon immer gerne Anderen etwas beigebracht. Spielerisch, mit einer blitzenden Freude, die sich überträgt.

In der verbleibenden Zeit unseres „Wohlfühl-Yoga-Urlaubs“ pflegen wir den wohligen Muskelkater und helfen uns gegenseitig in neu gelernte Verdrehungen. Wie fordert man sich, ohne sich zu überfordern? Abendliche Tiefenentspannung nach Eckhart Tolle, angeboten von Marc, tut da gut. Zumindest meinem Mann, der behauptet, als Vogel durch den Raum geflogen zu sein. Danach war er eine Röhre, schließlich ein Schlauchboot. Ich fror. Ab 23 Uhr wird es ruhig in der Casa. Die Weintrink-Fraktion hält noch etwas länger durch, aber gut abgeschottet. Wer kein Seminar gebucht hat wie wir, nutzt das hauseigene tägliche Yogaangebot nebst besonderer Abende wie Mantren singen oder Trommeln. Extra-Wohlfühlen kostet extra. Im Angebot sind Ausflüge zu schönen Orten oder Märkten. Für Massagen verschwindet man zur verabredeten Zeit in eigens dafür freigehaltenen Zimmern namens „Imara“ und „Mudata“, vor denen eine der acht hier lebenden Katzen gerade genüsslich einen Buckel macht, ganz ohne Anleitung. Die hat Yoga im Blut. Bald entdecke ich auch Yogamücken, wie machen die das, so langsam gleiten? Und fällt nicht eines der Blätter der japanischen Mispel, die Früchte wie Mirabellen trägt, herab wie mein wackelnder Arm, wenn er „Krieger 3“ auf einem Bein versucht? Manchmal tropft der Baum. Herbst kennt er nicht. Vermutlich verjüngt er sich sekundlich, wie meine Körperzellen, die ich jetzt miteinander ins Gespräch gebracht habe. Sie können gar nicht mehr still sein.

„Manchmal kommst du nicht weiter, weil Vergangenes an dir klebt. Ein Wunsch-Ich, dass du gerne wärest.“ Hie Kim lässt kleine Pausen zwischen den Wörtern. Sie fallen hinter unsere geschlossenen Augenlider, bevor wir sie öffnen und Übungen zur Beckenöffnung machen. Der Körper lernt jetzt ohne Einflüsterung, aber trotzdem scheint beides miteinander zu tun zu haben, es gibt eine Verbindung zum Geist, aber ich muss sie nicht analysieren. Wie schön. Wo nehme ich die Kraft für den Handstand her, in den mich Hie hineinüberrascht?

Alt werden wie Gerhard, der 88-Jährige, von dem jetzt endlich die Rede sein soll. Gegen Ende der Woche führt er uns einen traumhaften Küstenpfad hoch überm Meer entlang. Es duftet nach Rosmarin. Am alten Wachturm machen wir kurz Pause, und Gerhard erzählt, wie im Mittelalter hier Piraten angriffen. Vor vier Jahren hat Gerhard in der Casa noch eine Ausbildung zum Yogalehrer gemacht. Er wirkt bodenfest, im doppelten Sinn, wenn er beim Wandern wie eine Gemse Tritt fasst, und in dem, was er sagt. Es ist die wertschätzende Haltung allem gegenüber, die einen für ihn einnimmt. Und – Achtung, jetzt kommen große Worte – Demut und Präsenz. Wir entdecken tatsächlich Gemsen. Eine ganze Familie. Sie wechseln gerade ihre Farbe.

 

erschienen im Reiseteil der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG,  Januar 2014

Mrz 30 13

Jonas Lüscher: Völlig pleite zwischen Kamelen

Claus Brunsmann

Kamele sind bemitleidenswerte Tiere. Kürzlich hatte es ein Kamel in die Schlagzeilen geschafft, als der französische Präsident François Hollande ein solches, als Gastgeschenk erhalten, wegen seiner vielen Termine nicht selbst betreuen konnte. Er parkte es deshalb bei einer Familie, die das Kamel schlachtete, was so nicht beabsichtigt war.

Kamele bebildern auch Jonas Lüschers hinreißend altmodisch erzählte Novelle Frühling der Barbaren. Man erwähnt sie beispielsweise als berberisches Hochzeitsmahl, gebraten, gefüllt und mit Couscous serviert. Das Kamel verbreitet Lokalkolorit, mehr nicht. Lüscher wollte ja keine Kamelstudie schreiben, sondern etwas über die Finanzkrise in Zeiten der Globalisierung mitteilen. Wie ist das, wenn sich ein Schweizer Unternehmer, der sich mehr für die Antike als für Maschinen interessiert, in Tunesien seinen Zuliefererbetrieb anschaut? Wenn er eben dort nur Kamele sieht?

Preising heißt der Unternehmensspross, der im Mittelpunkt des Geschehens steht. Er dürfte mittleren Alters sein und hat einfach Glück gehabt: Das ererbte, desolate Familienunternehmen machte ein guter Angestellter für ihn wieder flott, weshalb er als Inhaber einer weltweit agierenden BH-Bügelfabrik nun gut verdient, am Tag genauso viel, wie ein Kameltreiber in Tieren gerechnet sein Eigen nennt.

Als Preising auf seiner Reise einmal miterlebt, wie ein Reisebus in Kamele rast und die Existenz des Tunesiers zerstört, will er eigentlich Geld transferieren und helfen. Aber er denkt zu lange nach, und die Fahrt geht schon weiter: „In getrübter Stimmung ließ er sich von dem gestrandeten Reisebus, den toten Kamelen und ihrem unglücklichen Besitzer, dessen Schicksal ihn noch sehr bewegte, fortchauffieren. Bald aber tauchten die ausgedehnten Dattelplantagen der Oase Tschub vor ihm auf. Der Wüstenwind ließ die dunkelgrünen Wipfel erzittern, und aus der Ferne sah es aus, als kräuselten sich die Wellen auf der Oberfläche eines kühlen Sees.“

Das Geld sitzt locker

Preisings Erzählung über seinen Aufenthalt in Tunesien kommt in Fahrt, als er die hübsche, tunesische Geschäftsführerin erwähnt. Eigentlich hat sie keine Zeit für den Gast aus der Schweiz. Sie nimmt ihn deshalb mit in ein luxuriöses Wellness-Resort mitten in der Wüste. Saida, so heißt sie, muss hier zwischen Pool und Palmen eine Hochzeit organisieren, für junge, karrierebewusste, spaßbereite Banker, die eigens aus London angereist sind. Das Geld sitzt locker. Man geizt nicht, man zeigt schöne, unverschämt jugendliche Körper und ausgelassene Sorglosigkeit.

Niemand ahnt, dass jenseits der Wellness-Oase, weit weg in der britischen Großstadt, das bequem ererbte oder eisern verdiente, sich sodann jedenfalls wie von selbst vermehrende Geld gerade eine Talfahrt sondergleichen erlebt: England geht bankrott. Die Nachricht trifft die Hochzeitsgesellschaft noch vor dem Ringtausch. Prompt sind ihre Konten leer und aller Luxus gekappt. Frühling der Barbaren endet tatsächlich barbarisch. Mehr sei hier nicht verraten.

Preising ist ein wunderbarer Erzähler, der die Kunst der Abschweifung elegant beherrscht. Man möchte ihn schütteln, weil er nie handelt, weil er gar nicht handeln kann. Ständig wird er wieder weggezogen von den Orten, an denen es etwas zu tun gäbe. Und überhaupt begeistert er sich viel zu sehr für nebensächliche Details. Darüber offenbar lebensuntauglich geworden, hält er sich deshalb derzeit in einer Psychiatrie auf. Von seinem Erlebnis in Tunesien hat er sich aber noch nicht so ganz erholt. Oder ist es trotz der vielen Toten, die es am Ende gibt, längst Nebensache, beziehungsweise: nur eine schöne Erzählung?

Diese teilt er nun seinem neuen Bekannten mit, dem zweiten Ich-Erzähler, den Lüscher in seinem ausgeklügelten Gesellschaftspanoptikum installiert. Man spaziert zwischen den Mauern durch den Park. Man redet. Beziehungsweise: Preising redet. Der andere bremst und nordet ihn. Ein irres pas-de-deux ist das, wie es einst Thomas Bernhard in Gehen durchhielt. Genauso konsequent hält auch Jonas Lüscher die Form. Kleine Sticheleien hier, eine Andeutung dort. Was andere Autoren zu Romanen aufbauschen, sagt er in einem Absatz. „Doch in unserer Unfähigkeit, uns als Handelnde zu verstehen, waren wir uns gleich, Preising und ich. Ihm gelang es, diesen offensichtlichen Mangel als Tugend zu verstehen. Ich dagegen leide sehr darunter. Aber etwas daran zu ändern, hieße zu handeln.“ So knapp, so fokussiert kann man Depression und ihre unterschiedlichen Spielarten fassen.

Jonas Lüscher, 1976 in der Schweiz geboren, eigentlich reisefreudig, war selbst nie in Tunesien. Das ist auch egal, seine kluge, unterhaltsame Novelle, die auf engstem Raum das Scheitern des Geldkreislaufs beschreibt, hätte auch in jedem anderen künstlich erschaffenen Touristenort spielen können. Lüscher, ausgebildeter Lehrer, schreibt derzeit an seiner Doktorarbeit in Philosophie. Darüber, dass Erzählungen uns mehr sagen können als Computerprogramme.

Kinderarbeit kennt er

Sein eigenes Büchlein, sein erstes, ist dafür jedenfalls beispielhaft. Es ist überzeugend stringent gebaut und verrät viel über die Wirkmacht des Geldes auf den Charakter des Menschen und die Abhängigkeitsverhältnisse, in die er gerät. Preising, dieser ohnmächtig von den Ereignissen herumgestoßene Mann, überlebt in ummauerten, geschlossenen Orten.

Dass Lüscher seine Erzählerfiguren in der Beobachterrolle lässt, dass er sie strikt nicht handeln lässt, ist vielleicht die konsequenteste Art, die Krise in Literatur zu übersetzen. Preising ist freundlich und zugewandt, aber blind für die tunesischen Arbeitsbedingungen, für die undurchsichtigen Verschiebungen seines großen Geldes. Von Kinderarbeit hat er zwar schon gehört. Aber es wird ihm als „das kleinere Übel“ nahegebracht, weshalb er nicht weiter darüber nachdenkt. Wie gesagt: Kamele bannen ihn. Erst später die schuftenden Kinder. Da ist aber alles längst zu spät.

Romane über die Finanzkrise türmen sich zwar immer noch nicht. Aber man kann doch wählen. Da gibt es Rainald Goetz‘ Johann Holtrop, der gnadenlos zwischen Zahlen, Gehältern und unkontrollierbaren Unzufriedenheiten aller vom Geldrausch verdreckten Menschen hinabrauscht. Kristof Magnusson versuchte sich an einem jungen Helden in New York, der, weil es so verführerisch einfach ging, mal eben die Bank dort um Billionenbeträge erleichterte (Das war ich nicht, 2011). Nora Bossong studiert die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (2012) aus dem Blick einer Unternehmerin. Und es fielen einem noch andere ein. So knapp, so schlicht, so betörend einfach wie Jonas Lüscher hat es bislang aber noch niemand auf den Punkt gebracht.

 

Erschienen auf ZEIT ONLINE, 14.05.2013

Apr 30 12

Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

Claus Brunsmann

Auf den ersten Blick ist dieser Roman eine Zumutung. Entweder also, man flüchtet. Oder man duckt sich in diese Sprache hinein, schmeckt ihr nach, lässt sich öffnen und in Erwartung versetzen durch die Verzögerung, mit der hier allein durch das Zurückhalten des sinnstiftenden Wortes jeder Satz quasi erst im Rückwärtsgang verstanden werden kann. Patrick Roth liebt Platon, Pindar, die griechische Syntax, die einen warten lässt auf das Genitivattribut. Er schätzt das damit einhergehende Gefühl einer existentiellen Feierlichkeit, die Abgründe ausleuchtet. Und so ist das, was er jetzt selbst für sein Buch über Joseph, den Ziehvater Jesu, mit diesem hohen Ton, mit dieser biblischen Sprache und ihren psalmischen, wuchtigen, fleischigen Szenen anstellt, eigentlich gar nicht so überraschend. Hat man sich einmal darauf eingelassen, spürt man den radikalen Ernst, der den Stoff trägt. Die Lektüre fordert, überfordert, lässt rätseln und entschlüsseln und erneut rätseln und fesselt zunehmend, weil mit jedem errungenen Wissen in dieser metaphysisch organisierten Welt ein neuer, spitzer Splitter platziert wird, mit jeder Antwort eine neue, widerspenstige Disharmonie. Jedes Kapitel ist ein Gang durch Leben und Tod, mit Opferblut geschwärzt, mit Flügelschlag geweiht. Also: nur Mut zur Versenkung in diesen so anderen Erzählkosmos.

Patrick Roth, 1953 in Freiburg geboren und seit 1975 in Los Angeles lebend, Drehbuchschreiber, Autor von Prosa, Theaterstücken, Hörspielen, ist in der deutschsprachigen Literaturlandschaft ein Solitär. Seine Affinität zu religiösen Stoffen ist vielen der Leser, die etwa sein Buch über Charlie Chaplin liebten, eher suspekt. Nach der Christus-Trilogie „Riverside“ (1991), „Johnny Shines“ (1993), „Corpus Christi“ (1996), alles schmalere Bücher, macht er jetzt in seinem bisher längsten Roman „Sunrise. Das Buch Joseph“ eine biblische Randfigur zum Helden. Joseph kennt man ja eher als den Mann im Hintergrund. In der Heiligen Familie spielt er als Nährvater und Beschützer eine Rolle. An der Wiege darf er die Laterne halten. Klaglos verzichtet er nach Kenntnisnahme von Marias Schwangerschaft auf den männlichen Ehrenstandpunkt und die genealogische Fortsetzung seiner Linie. Was die Evangelisten übermitteln, sind seine Träume, kaum Fakten.

Hier setzt der an C.G. Jungs Lehre von der Archetypie alles Geträumten geschulte Patrick Roth an. Er zeigt einen hochmodernen Joseph, der nicht nur fähig ist, Träume zu empfangen und zu erinnern, sondern ihre krasse Bildsprache, ihren schier unmenschlichen Auftrag auszuhalten, sogar in eine Handlung zu überführen. Er hört dem 12jährigen Jesus geduldig zu, als dieser ihm nach der bekannten Szene im Tempel von einem Traum erzählt. Er hakt nach, spekuliert, lässt Raum. Was für ein zugewandter Vater! Maria steht in dieser Kleinfamilie eher am Rande. Das Reden und Zuhören ist nicht ihr Terrain.

Gerade die Rolle als ahnender Mensch wird für Joseph aber zur eigentlichen Zumutung. Sie fordert ihn als Empathiker, als Zweifelnden, der jede Nuance Angst bis ins Mark spürt. Der Vorgang des Deutens wächst zu einem komplexen Ungetüm mit tausend Köpfen und Stimmen heran. Und so wird der Roman schließlich zu einem Netzwerk aus Zeichen. Fundamentale Gegenstände, die eine ganz eigene Geschichte erzählen, wie das Seil oder das Tuch, spielen eine wichtige leitmotivische Rolle. Das eigentlich Faszinierende aber sind die Räume, die Patrick Roth hier baut und die wir mit Joseph durchtaumeln: brennende Häuser, würgend enge Felsspalten, schier unendliche Wüsten, eine vertrocknete Zisterne, aus der Ähren wachsen. Füchse erscheinen, schauen kurz auf und trollen sich wieder. Verbunden ist das mit einer sich stark vermittelnden, körperlichen Verfasstheit. Joseph muss sich im Traum krümmen, um am Boden liegende Scherben zu entziffern. Er kriecht, er verstummt, er erblindet. Und sehr oft trägt er schwere Lasten: einen verwundeten Sklaven, der eine wichtige Rolle spielen wird; Maria, für die er den geretteten Sklaven ablegen muss. Joseph ist beladen, an der Wende seines Lebens wie tot, am Ende dieser Odyssee aber leicht wie ein Engel.

Das ist zunächst einmal also eine vertraute biblische Konstellation: Joseph als der bloße Mensch, der Gottes Plan und seine Orakel zu durchschauen versucht. Und Gott, der diesen Menschen bis aufs Messer prüft – keiner kann vom Anderen lassen. Roth erzählt also Josephs Individuation unter einem die Transzendenz zulassenden Blickwinkel. Schon das gilt ja in der gegenwärtigen Literatur nicht gerade als Trend. Und natürlich denkt man an einen anderen großen Monolithen der Literaturgeschichte, Thomas Manns monumentalen Vierbänder „Joseph und seine Brüder“ über den anderen Joseph, den jüngsten Sohn Jaakobs. Motive überschneiden sich. Und auch Roths Komposition ist als großes Beziehungsgeflecht angelegt. Beide Werke sind als moderne Auslegung von Mythologie zu lesen und verlängern alttestamentarisches Material in die Zukunft. Während aber Thomas Manns Figur mehr Intellektueller ist, wirkt der Rothsche Joseph im innersten Kern zerrieben und durchkreuzt. Um diesen nackten Helden zu spiegeln und vorzuführen, schmückt Roth aus und erfindet. Er verdichtet, beraubt die Bibel, tauscht einfach Namen und bekannte Geschichten aus und lässt sie Joseph zustoßen. So soll er beispielsweise Jesus opfern – wie in der Bibel Abraham seinen Sohn Isaak. Nicht Wissen, sondern Erfahrung läutert hier. Ergibt das Sinn?

Roth, für sein filmisches Erzählen bekannt, mischt alles zu einer archaischen Abenteuergeschichte mit historischen Orten, mit Schnitten, Rückblenden und wechselnd scharfen Perspektiven auf das bisweilen sehr handfeste und blutige Geschehen. Es beginnt in Jerusalem 70 Jahre nach Christi Geburt. Die Stadt, von römischen Truppen belagert, ist im Ausnahmezustand, jeder seines Nächsten Feind. Hungernde klauben letzte Reste aus den Mündern Verstorbener. Tote säumen die Hänge des Kidrontals. Wir begleiten Männer, die sich in diese irdische Hölle eingeschleust haben, um das Grab Jesu‘ zu suchen und zu schützen. Stattdessen treffen sie auf Neith, eine alte Frau und Weberin. In der Mythologie wird sie mit der Jagd und Wasser in Verbindung gebracht; hier erlebt man sie als begnadete Erzählerin. Wie sie ihre Stimme erhebt, ist von einschüchternder Prägnanz, und was sie zu berichten hat über Joseph, ihren Herrn, ist so ganz anders als alles, was die historische Figur preisgibt.

Neith zufolge hatte Joseph vor Maria schon mal Frau und Sohn, gleichfalls mit Namen Jesus. Bei einem Sturm glitt der damals einjährige Jesus seinem Vater Joseph aus der Hand ins Wasser. Joseph taucht hinterher, und bereits hier beginnt Roths großer Bildersturm, seine steile Hinabfahrt in den Orkus. Im Grunde kennt dieses Buch zwei große Bewegungen: das Fallen und das Steigen. So teilt Roth auch seine Kapitel ein, in „Die Bücher des Abstiegs“ und „Die Bücher des Aufstiegs“. Die Symmetrie ist hier Prinzip. Außerdem die Wiederkehr. Alles muss zweimal erlebt und erfahren werden, als bildete sich Lebensweisheit überhaupt erst beim zweiten Versuch, mit dem Wissen der Möglichkeit des Scheiterns. Kleinste, intuitive Handlungen haben unermessliche Wirkungen. Übermenschliches wird mit Kleistscher Ohnmacht quittiert, Rollen werden umgeschrieben. Und auch die Ägypterin Neith, diese ewige Erzählerin, ist eine ganz Andere als die, für die man sie lange hält. Man muss das nicht alles unterstreichen bis in die letzte Konsequenz, die Joseph mit seinem Zugang zum Unbewussten und seinen Heilserfahrungen irgendwo zwischen Mensch und Gott verortet. Aber man kann sich schon dieser aufgeladenen Sprache ergeben, als Experiment.

Diese durchrhythmisierte Sprache ist vergleichbar den Psalmen, die bis heute irritieren und keinen Rost angesetzt haben. Man durchläuft Roths Roman wie ein verwildertes, verdörrendes Land, an dessen Oberfläche Schlachten wüten und in dessen Gräben sich Eingänge zu Höhlen befinden, die man nur mit Begleitschutz betreten mag. Mitten drin Joseph und seine Träume, Szenen wie aus uralten Märchen, die sich in dieses Leben eindrücken und Erhebungen hinterlassen: „Und wie Mehl und Brot riecht`s am Gewande des blinden Alten, als Joseph sich abwendet im Traum“. Da gibt es nahezu Heideggersche Sequenzen (er „sah sie anwesen, die Bilder“); Verben werden vorgezogen und gewinnen so an Kraft („denn es rieben rauh an der Haut ihm die Stricke“); Bedeutungen changieren, wenn nur ein Buchstabe ausgetauscht wird („aufgehoben, ausgehoben“); es gibt, wie in Psalmen auch, wunderbare, vergangene, aufgeladene Worte mit Klang („eine Tracht Holz“). Es scheint, selbst die Syntax hat eine Art Wissen und stellt viel zu früh Informationen bereit, die erst im Draufblick auf die Gesamtkomposition verlinkt werden können. Gehalten wird diese Komposition durch Roths beherzten Zugriff auf alles, was auch Filme spannend macht: Raubüberfälle, Gewaltszenen, das Zaudern und Verschmerzen davor und danach. Ein Angriff etwa liest sich dann so: „Aus der Hocke heraus springt er hoch. Und wild drängt nach hinten. Vorm Herankommenden weicht er, fällt auf den Boden, staucht blind, unterdrückt einen Schrei.“ Dann zieht es einen wieder weiter, mit Satzkaskaden, alle durch ein „und“ miteinander verknüpft, als wären Josephs Erlebnisse zugleich historisch und ewig, als müsste es immer so weitergehen im Zwischentraumreich. Ein Strudel, der hinabzieht und einen wieder an die ganz banale Oberfläche des Alltags heraufspült.

Was also macht Patrick Roth aus Joseph? Womöglich genau das, was Albrecht Koschorke in seinem klugen Buch über „Die Heilige Familie und ihre Folgen“ herausarbeitet. Dieser sieht Joseph an der Schnittstelle zwischen Judentum und Christentum: Mit ihm werde die irdische Reihenfolge gekappt und Raum geschaffen für himmlische Genealogien. Außerdem reiße eine bestimmte Form von Lesbarkeit ab „zugunsten der Auferstehung des Sinns. Von nun an werden zentrale Instanzen nur noch in der Form der Doppelung kulturell verfügbar sein: der Vater (Joseph/Gott); der Mann (leiblicher Ausschluss/himmlische Ergießung); der Phallus (als Samen-/als Wortkanal); der Ursprung (durch Blutsverwandtschaft/spirituell“). Bei Roth kommt das alles irgendwie vor. Es zu ergründen bleibt Aufgabe der Literaturwissenschaftler oder Theologen. Für normal sterbliche Leser tritt einem Joseph als der große Aushalter entgegen, dessen Leben mit der Verkündigung umgewälzt und durchwalkt wird. Das leuchtet ein und reißt mit.

 

Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 510 Seiten, 24,90 €.

 

 

erschienen in der  FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 2012

Feb 2 12

Christine Lavant: Das Wechselbälgchen

Claus Brunsmann

Ein vor Jahren erschienenes Postkartenbuch zeigt die österreichische Schriftstellerin und Künstlerin Christine Lavant in verschiedenen Zusammenhängen. Man sieht die 1915 in Kärnten geborene Dichterin oft mit einem Kopftuch und tiefen Augenringen, die der mit ihr befreundete Künstler Werner Berg in einem Holzschnitt extra betonte, so dass Christine Lavant darauf fast so gespenstisch aussieht wie eine Figur von Edvard Munch. Am eindrucksvollstens aber ist eine Fotografie, auf der sie gar nicht zu sehen ist, nur ihr Schlaf- und Arbeitsraum im Hause der Freundin, bei der sie immer wieder wohnte, wenn sie nicht gerade im Krankenheim war. Man sieht ihr mit einer Wolldecke überworfenes Bett, auf dem Nachttisch eine große Packung der Zigarettenmarke, die sie rauchte, Bücher und eine einstielige Blume – und im Vordergrund eine große Schale, in der Strickzeug liegt. Wenn man weiß, dass Christine Lavant ihren Lebensunterhalt mit Stricken zu verdienen versuchte, erhält diese Strickarbeit im Zentrum des Bildes eine besondere Bedeutung. Und als sie dann mit Preisen gewürdigt wurde – unter anderem erhielt sie 1954 den Georg-Trakl-Preis und 1970 den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur – war das Stricken gleichwohl Symbol für das eiserne Ringen einer Autorin, die immer wieder vergessen zu werden droht.

Bei Suhrkamp konnte man Christine Lavant, geborene Thonhauser, 1987 mit Gedichten entdecken. Thomas Bernhard zeichnete als Herausgeber, der schrieb: „Es ist das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern mißbrauchten Menschen als große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist.“ Er meinte wohl die Armut, auch ein Leben mit Krankheiten, welche die Autorin begleiteten – Skrofeln, Lungentuberkolose, eine Mittelohrentzündung, worunter sie fast erblindete und ertaubte. Er muss aber auch die eigenwillige Sprache im Blick gehabt haben, Zeilen wie diese: „Während ich, Betrübte, schreibe, / funkelt in der Vollmondscheibe / jenes Wort, das ich betrachte, / seit die Taube mich verlachte, / weil ich aus dem Wasserspiegel / ohne Namen, ohne Siegel / in die Einschicht trat. / Wäre nicht die Saat / der Betrachtung groß geworden, / müßt ich Mond und Taube morden, / die mich ständig überlisten / und in meinem Schlafbaum nisten, / der davon verdorrt.“

Der Salzburger Otto-Müller-Verlag brachte einiges heraus. Inzwischen kümmert sich der Göttinger Wallstein Verlag um den Nachlass der 1973 gestorbenen Autorin und startet mit einem ersten Band, der die Lyrikerin als kraftvolle Erzählerin entdecken lässt: „Das Wechselbälgchen“ muss um 1945 entstanden sein und wurde erst 1997 im Archiv entdeckt, 1998 erstpubliziert. Die Ausgabe ist seit längerem vergriffen. Nun gibt es eine kommentierte Neuausgabe der Erzählung: Eine archaische, aus dem kargen Kärnten herausgemeißelte Parabel über das traurige Schicksal von Zitha, einem geistig zurückgebliebenen Mädchen, das uneheliche Kind einer Bauernmagd, die im katholischen und abergläubischen Milieu nicht Fuß fassen kann.

Die Erzählung führt tief hinein ins abgeschottete Lavanttal, das im selbst gewählten „Decknamen“ der Autorin anklingt. Als eines von neun Kindern, von denen zwei früh starben, wuchs Christine Lavant hier auf, der Sonne wegen oft gelagert auf dem Fensterbrett, von wo sie alle Gespräche verfolgen konnte. Die Mutter war im Dorf eine Art „Beichtiger“, wie Lavant schreibt. Man lud alle Probleme bei ihr ab, und sie „verwandelte“ alles mit einer „strahlenden, fast übermütigen Demut“. Diese Erfahrung, außerdem das eigene Kranksein mögen Christine Lavant inspiriert haben, das ganz andere Schicksal der einäugigen Bauernmagd Wrga und ihres hinterm Ofen hausenden, abgeschobenen, schwachen Kindes literarisch zu formen. Es schlägt einem dunkel entgegen wie eine uralte Sage, mit stark überzeichnetem Personal, dem Knecht „von den gläsernen Grenzbergen“ aus dem slowenischen Teil Kärntens, der in fremder Sprache flucht und immer einen Abwehrspruch auf den Lippen hat; mit der Magd, die hellauf lacht, bis man ihre „Schelchzähne“ sehen kann. Lavant nutzt Dialekt ebenso wie fremdklingende Wörter, „Saukaschpel“ für Schweinetrank oder die „Truta-Mora“ für den weiblichen Druckgeist, der sich nachts auf die Brust der Schlafenden setzt und den Atem nimmt. Und so entsteht aus diesen Elementen eine magische, irrationale, dörfliche Kapsel mit eigenen, gnadenlosen Gesetzen. Man kann diese Erzählung, wie Klaus Amann im Nachwort schreibt, als „Parabel über die Besessenheit“, die Vernichtung ‚unwerten‘ Lebens im Nationalsozialismus, lesen. Sie wirkt zugleich zeitlos und rau, sehr direkt, stringent komponiert und entwickelt einen sonderbaren Sog.

 

Christine Lavant: Das Wechselbälgchen. Erzählung. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Klaus Amann. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 104 Seiten, 16,90 €.

 

erschienen in der  FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 2012