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Mrz 30 13

Jonas Lüscher: Völlig pleite zwischen Kamelen

Claus Brunsmann

Kamele sind bemitleidenswerte Tiere. Kürzlich hatte es ein Kamel in die Schlagzeilen geschafft, als der französische Präsident François Hollande ein solches, als Gastgeschenk erhalten, wegen seiner vielen Termine nicht selbst betreuen konnte. Er parkte es deshalb bei einer Familie, die das Kamel schlachtete, was so nicht beabsichtigt war.

Kamele bebildern auch Jonas Lüschers hinreißend altmodisch erzählte Novelle Frühling der Barbaren. Man erwähnt sie beispielsweise als berberisches Hochzeitsmahl, gebraten, gefüllt und mit Couscous serviert. Das Kamel verbreitet Lokalkolorit, mehr nicht. Lüscher wollte ja keine Kamelstudie schreiben, sondern etwas über die Finanzkrise in Zeiten der Globalisierung mitteilen. Wie ist das, wenn sich ein Schweizer Unternehmer, der sich mehr für die Antike als für Maschinen interessiert, in Tunesien seinen Zuliefererbetrieb anschaut? Wenn er eben dort nur Kamele sieht?

Preising heißt der Unternehmensspross, der im Mittelpunkt des Geschehens steht. Er dürfte mittleren Alters sein und hat einfach Glück gehabt: Das ererbte, desolate Familienunternehmen machte ein guter Angestellter für ihn wieder flott, weshalb er als Inhaber einer weltweit agierenden BH-Bügelfabrik nun gut verdient, am Tag genauso viel, wie ein Kameltreiber in Tieren gerechnet sein Eigen nennt.

Als Preising auf seiner Reise einmal miterlebt, wie ein Reisebus in Kamele rast und die Existenz des Tunesiers zerstört, will er eigentlich Geld transferieren und helfen. Aber er denkt zu lange nach, und die Fahrt geht schon weiter: „In getrübter Stimmung ließ er sich von dem gestrandeten Reisebus, den toten Kamelen und ihrem unglücklichen Besitzer, dessen Schicksal ihn noch sehr bewegte, fortchauffieren. Bald aber tauchten die ausgedehnten Dattelplantagen der Oase Tschub vor ihm auf. Der Wüstenwind ließ die dunkelgrünen Wipfel erzittern, und aus der Ferne sah es aus, als kräuselten sich die Wellen auf der Oberfläche eines kühlen Sees.“

Das Geld sitzt locker

Preisings Erzählung über seinen Aufenthalt in Tunesien kommt in Fahrt, als er die hübsche, tunesische Geschäftsführerin erwähnt. Eigentlich hat sie keine Zeit für den Gast aus der Schweiz. Sie nimmt ihn deshalb mit in ein luxuriöses Wellness-Resort mitten in der Wüste. Saida, so heißt sie, muss hier zwischen Pool und Palmen eine Hochzeit organisieren, für junge, karrierebewusste, spaßbereite Banker, die eigens aus London angereist sind. Das Geld sitzt locker. Man geizt nicht, man zeigt schöne, unverschämt jugendliche Körper und ausgelassene Sorglosigkeit.

Niemand ahnt, dass jenseits der Wellness-Oase, weit weg in der britischen Großstadt, das bequem ererbte oder eisern verdiente, sich sodann jedenfalls wie von selbst vermehrende Geld gerade eine Talfahrt sondergleichen erlebt: England geht bankrott. Die Nachricht trifft die Hochzeitsgesellschaft noch vor dem Ringtausch. Prompt sind ihre Konten leer und aller Luxus gekappt. Frühling der Barbaren endet tatsächlich barbarisch. Mehr sei hier nicht verraten.

Preising ist ein wunderbarer Erzähler, der die Kunst der Abschweifung elegant beherrscht. Man möchte ihn schütteln, weil er nie handelt, weil er gar nicht handeln kann. Ständig wird er wieder weggezogen von den Orten, an denen es etwas zu tun gäbe. Und überhaupt begeistert er sich viel zu sehr für nebensächliche Details. Darüber offenbar lebensuntauglich geworden, hält er sich deshalb derzeit in einer Psychiatrie auf. Von seinem Erlebnis in Tunesien hat er sich aber noch nicht so ganz erholt. Oder ist es trotz der vielen Toten, die es am Ende gibt, längst Nebensache, beziehungsweise: nur eine schöne Erzählung?

Diese teilt er nun seinem neuen Bekannten mit, dem zweiten Ich-Erzähler, den Lüscher in seinem ausgeklügelten Gesellschaftspanoptikum installiert. Man spaziert zwischen den Mauern durch den Park. Man redet. Beziehungsweise: Preising redet. Der andere bremst und nordet ihn. Ein irres pas-de-deux ist das, wie es einst Thomas Bernhard in Gehen durchhielt. Genauso konsequent hält auch Jonas Lüscher die Form. Kleine Sticheleien hier, eine Andeutung dort. Was andere Autoren zu Romanen aufbauschen, sagt er in einem Absatz. „Doch in unserer Unfähigkeit, uns als Handelnde zu verstehen, waren wir uns gleich, Preising und ich. Ihm gelang es, diesen offensichtlichen Mangel als Tugend zu verstehen. Ich dagegen leide sehr darunter. Aber etwas daran zu ändern, hieße zu handeln.“ So knapp, so fokussiert kann man Depression und ihre unterschiedlichen Spielarten fassen.

Jonas Lüscher, 1976 in der Schweiz geboren, eigentlich reisefreudig, war selbst nie in Tunesien. Das ist auch egal, seine kluge, unterhaltsame Novelle, die auf engstem Raum das Scheitern des Geldkreislaufs beschreibt, hätte auch in jedem anderen künstlich erschaffenen Touristenort spielen können. Lüscher, ausgebildeter Lehrer, schreibt derzeit an seiner Doktorarbeit in Philosophie. Darüber, dass Erzählungen uns mehr sagen können als Computerprogramme.

Kinderarbeit kennt er

Sein eigenes Büchlein, sein erstes, ist dafür jedenfalls beispielhaft. Es ist überzeugend stringent gebaut und verrät viel über die Wirkmacht des Geldes auf den Charakter des Menschen und die Abhängigkeitsverhältnisse, in die er gerät. Preising, dieser ohnmächtig von den Ereignissen herumgestoßene Mann, überlebt in ummauerten, geschlossenen Orten.

Dass Lüscher seine Erzählerfiguren in der Beobachterrolle lässt, dass er sie strikt nicht handeln lässt, ist vielleicht die konsequenteste Art, die Krise in Literatur zu übersetzen. Preising ist freundlich und zugewandt, aber blind für die tunesischen Arbeitsbedingungen, für die undurchsichtigen Verschiebungen seines großen Geldes. Von Kinderarbeit hat er zwar schon gehört. Aber es wird ihm als „das kleinere Übel“ nahegebracht, weshalb er nicht weiter darüber nachdenkt. Wie gesagt: Kamele bannen ihn. Erst später die schuftenden Kinder. Da ist aber alles längst zu spät.

Romane über die Finanzkrise türmen sich zwar immer noch nicht. Aber man kann doch wählen. Da gibt es Rainald Goetz‘ Johann Holtrop, der gnadenlos zwischen Zahlen, Gehältern und unkontrollierbaren Unzufriedenheiten aller vom Geldrausch verdreckten Menschen hinabrauscht. Kristof Magnusson versuchte sich an einem jungen Helden in New York, der, weil es so verführerisch einfach ging, mal eben die Bank dort um Billionenbeträge erleichterte (Das war ich nicht, 2011). Nora Bossong studiert die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (2012) aus dem Blick einer Unternehmerin. Und es fielen einem noch andere ein. So knapp, so schlicht, so betörend einfach wie Jonas Lüscher hat es bislang aber noch niemand auf den Punkt gebracht.

 

Erschienen auf ZEIT ONLINE, 14.05.2013

Apr 30 12

Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

Claus Brunsmann

Auf den ersten Blick ist dieser Roman eine Zumutung. Entweder also, man flüchtet. Oder man duckt sich in diese Sprache hinein, schmeckt ihr nach, lässt sich öffnen und in Erwartung versetzen durch die Verzögerung, mit der hier allein durch das Zurückhalten des sinnstiftenden Wortes jeder Satz quasi erst im Rückwärtsgang verstanden werden kann. Patrick Roth liebt Platon, Pindar, die griechische Syntax, die einen warten lässt auf das Genitivattribut. Er schätzt das damit einhergehende Gefühl einer existentiellen Feierlichkeit, die Abgründe ausleuchtet. Und so ist das, was er jetzt selbst für sein Buch über Joseph, den Ziehvater Jesu, mit diesem hohen Ton, mit dieser biblischen Sprache und ihren psalmischen, wuchtigen, fleischigen Szenen anstellt, eigentlich gar nicht so überraschend. Hat man sich einmal darauf eingelassen, spürt man den radikalen Ernst, der den Stoff trägt. Die Lektüre fordert, überfordert, lässt rätseln und entschlüsseln und erneut rätseln und fesselt zunehmend, weil mit jedem errungenen Wissen in dieser metaphysisch organisierten Welt ein neuer, spitzer Splitter platziert wird, mit jeder Antwort eine neue, widerspenstige Disharmonie. Jedes Kapitel ist ein Gang durch Leben und Tod, mit Opferblut geschwärzt, mit Flügelschlag geweiht. Also: nur Mut zur Versenkung in diesen so anderen Erzählkosmos.

Patrick Roth, 1953 in Freiburg geboren und seit 1975 in Los Angeles lebend, Drehbuchschreiber, Autor von Prosa, Theaterstücken, Hörspielen, ist in der deutschsprachigen Literaturlandschaft ein Solitär. Seine Affinität zu religiösen Stoffen ist vielen der Leser, die etwa sein Buch über Charlie Chaplin liebten, eher suspekt. Nach der Christus-Trilogie „Riverside“ (1991), „Johnny Shines“ (1993), „Corpus Christi“ (1996), alles schmalere Bücher, macht er jetzt in seinem bisher längsten Roman „Sunrise. Das Buch Joseph“ eine biblische Randfigur zum Helden. Joseph kennt man ja eher als den Mann im Hintergrund. In der Heiligen Familie spielt er als Nährvater und Beschützer eine Rolle. An der Wiege darf er die Laterne halten. Klaglos verzichtet er nach Kenntnisnahme von Marias Schwangerschaft auf den männlichen Ehrenstandpunkt und die genealogische Fortsetzung seiner Linie. Was die Evangelisten übermitteln, sind seine Träume, kaum Fakten.

Hier setzt der an C.G. Jungs Lehre von der Archetypie alles Geträumten geschulte Patrick Roth an. Er zeigt einen hochmodernen Joseph, der nicht nur fähig ist, Träume zu empfangen und zu erinnern, sondern ihre krasse Bildsprache, ihren schier unmenschlichen Auftrag auszuhalten, sogar in eine Handlung zu überführen. Er hört dem 12jährigen Jesus geduldig zu, als dieser ihm nach der bekannten Szene im Tempel von einem Traum erzählt. Er hakt nach, spekuliert, lässt Raum. Was für ein zugewandter Vater! Maria steht in dieser Kleinfamilie eher am Rande. Das Reden und Zuhören ist nicht ihr Terrain.

Gerade die Rolle als ahnender Mensch wird für Joseph aber zur eigentlichen Zumutung. Sie fordert ihn als Empathiker, als Zweifelnden, der jede Nuance Angst bis ins Mark spürt. Der Vorgang des Deutens wächst zu einem komplexen Ungetüm mit tausend Köpfen und Stimmen heran. Und so wird der Roman schließlich zu einem Netzwerk aus Zeichen. Fundamentale Gegenstände, die eine ganz eigene Geschichte erzählen, wie das Seil oder das Tuch, spielen eine wichtige leitmotivische Rolle. Das eigentlich Faszinierende aber sind die Räume, die Patrick Roth hier baut und die wir mit Joseph durchtaumeln: brennende Häuser, würgend enge Felsspalten, schier unendliche Wüsten, eine vertrocknete Zisterne, aus der Ähren wachsen. Füchse erscheinen, schauen kurz auf und trollen sich wieder. Verbunden ist das mit einer sich stark vermittelnden, körperlichen Verfasstheit. Joseph muss sich im Traum krümmen, um am Boden liegende Scherben zu entziffern. Er kriecht, er verstummt, er erblindet. Und sehr oft trägt er schwere Lasten: einen verwundeten Sklaven, der eine wichtige Rolle spielen wird; Maria, für die er den geretteten Sklaven ablegen muss. Joseph ist beladen, an der Wende seines Lebens wie tot, am Ende dieser Odyssee aber leicht wie ein Engel.

Das ist zunächst einmal also eine vertraute biblische Konstellation: Joseph als der bloße Mensch, der Gottes Plan und seine Orakel zu durchschauen versucht. Und Gott, der diesen Menschen bis aufs Messer prüft – keiner kann vom Anderen lassen. Roth erzählt also Josephs Individuation unter einem die Transzendenz zulassenden Blickwinkel. Schon das gilt ja in der gegenwärtigen Literatur nicht gerade als Trend. Und natürlich denkt man an einen anderen großen Monolithen der Literaturgeschichte, Thomas Manns monumentalen Vierbänder „Joseph und seine Brüder“ über den anderen Joseph, den jüngsten Sohn Jaakobs. Motive überschneiden sich. Und auch Roths Komposition ist als großes Beziehungsgeflecht angelegt. Beide Werke sind als moderne Auslegung von Mythologie zu lesen und verlängern alttestamentarisches Material in die Zukunft. Während aber Thomas Manns Figur mehr Intellektueller ist, wirkt der Rothsche Joseph im innersten Kern zerrieben und durchkreuzt. Um diesen nackten Helden zu spiegeln und vorzuführen, schmückt Roth aus und erfindet. Er verdichtet, beraubt die Bibel, tauscht einfach Namen und bekannte Geschichten aus und lässt sie Joseph zustoßen. So soll er beispielsweise Jesus opfern – wie in der Bibel Abraham seinen Sohn Isaak. Nicht Wissen, sondern Erfahrung läutert hier. Ergibt das Sinn?

Roth, für sein filmisches Erzählen bekannt, mischt alles zu einer archaischen Abenteuergeschichte mit historischen Orten, mit Schnitten, Rückblenden und wechselnd scharfen Perspektiven auf das bisweilen sehr handfeste und blutige Geschehen. Es beginnt in Jerusalem 70 Jahre nach Christi Geburt. Die Stadt, von römischen Truppen belagert, ist im Ausnahmezustand, jeder seines Nächsten Feind. Hungernde klauben letzte Reste aus den Mündern Verstorbener. Tote säumen die Hänge des Kidrontals. Wir begleiten Männer, die sich in diese irdische Hölle eingeschleust haben, um das Grab Jesu‘ zu suchen und zu schützen. Stattdessen treffen sie auf Neith, eine alte Frau und Weberin. In der Mythologie wird sie mit der Jagd und Wasser in Verbindung gebracht; hier erlebt man sie als begnadete Erzählerin. Wie sie ihre Stimme erhebt, ist von einschüchternder Prägnanz, und was sie zu berichten hat über Joseph, ihren Herrn, ist so ganz anders als alles, was die historische Figur preisgibt.

Neith zufolge hatte Joseph vor Maria schon mal Frau und Sohn, gleichfalls mit Namen Jesus. Bei einem Sturm glitt der damals einjährige Jesus seinem Vater Joseph aus der Hand ins Wasser. Joseph taucht hinterher, und bereits hier beginnt Roths großer Bildersturm, seine steile Hinabfahrt in den Orkus. Im Grunde kennt dieses Buch zwei große Bewegungen: das Fallen und das Steigen. So teilt Roth auch seine Kapitel ein, in „Die Bücher des Abstiegs“ und „Die Bücher des Aufstiegs“. Die Symmetrie ist hier Prinzip. Außerdem die Wiederkehr. Alles muss zweimal erlebt und erfahren werden, als bildete sich Lebensweisheit überhaupt erst beim zweiten Versuch, mit dem Wissen der Möglichkeit des Scheiterns. Kleinste, intuitive Handlungen haben unermessliche Wirkungen. Übermenschliches wird mit Kleistscher Ohnmacht quittiert, Rollen werden umgeschrieben. Und auch die Ägypterin Neith, diese ewige Erzählerin, ist eine ganz Andere als die, für die man sie lange hält. Man muss das nicht alles unterstreichen bis in die letzte Konsequenz, die Joseph mit seinem Zugang zum Unbewussten und seinen Heilserfahrungen irgendwo zwischen Mensch und Gott verortet. Aber man kann sich schon dieser aufgeladenen Sprache ergeben, als Experiment.

Diese durchrhythmisierte Sprache ist vergleichbar den Psalmen, die bis heute irritieren und keinen Rost angesetzt haben. Man durchläuft Roths Roman wie ein verwildertes, verdörrendes Land, an dessen Oberfläche Schlachten wüten und in dessen Gräben sich Eingänge zu Höhlen befinden, die man nur mit Begleitschutz betreten mag. Mitten drin Joseph und seine Träume, Szenen wie aus uralten Märchen, die sich in dieses Leben eindrücken und Erhebungen hinterlassen: „Und wie Mehl und Brot riecht`s am Gewande des blinden Alten, als Joseph sich abwendet im Traum“. Da gibt es nahezu Heideggersche Sequenzen (er „sah sie anwesen, die Bilder“); Verben werden vorgezogen und gewinnen so an Kraft („denn es rieben rauh an der Haut ihm die Stricke“); Bedeutungen changieren, wenn nur ein Buchstabe ausgetauscht wird („aufgehoben, ausgehoben“); es gibt, wie in Psalmen auch, wunderbare, vergangene, aufgeladene Worte mit Klang („eine Tracht Holz“). Es scheint, selbst die Syntax hat eine Art Wissen und stellt viel zu früh Informationen bereit, die erst im Draufblick auf die Gesamtkomposition verlinkt werden können. Gehalten wird diese Komposition durch Roths beherzten Zugriff auf alles, was auch Filme spannend macht: Raubüberfälle, Gewaltszenen, das Zaudern und Verschmerzen davor und danach. Ein Angriff etwa liest sich dann so: „Aus der Hocke heraus springt er hoch. Und wild drängt nach hinten. Vorm Herankommenden weicht er, fällt auf den Boden, staucht blind, unterdrückt einen Schrei.“ Dann zieht es einen wieder weiter, mit Satzkaskaden, alle durch ein „und“ miteinander verknüpft, als wären Josephs Erlebnisse zugleich historisch und ewig, als müsste es immer so weitergehen im Zwischentraumreich. Ein Strudel, der hinabzieht und einen wieder an die ganz banale Oberfläche des Alltags heraufspült.

Was also macht Patrick Roth aus Joseph? Womöglich genau das, was Albrecht Koschorke in seinem klugen Buch über „Die Heilige Familie und ihre Folgen“ herausarbeitet. Dieser sieht Joseph an der Schnittstelle zwischen Judentum und Christentum: Mit ihm werde die irdische Reihenfolge gekappt und Raum geschaffen für himmlische Genealogien. Außerdem reiße eine bestimmte Form von Lesbarkeit ab „zugunsten der Auferstehung des Sinns. Von nun an werden zentrale Instanzen nur noch in der Form der Doppelung kulturell verfügbar sein: der Vater (Joseph/Gott); der Mann (leiblicher Ausschluss/himmlische Ergießung); der Phallus (als Samen-/als Wortkanal); der Ursprung (durch Blutsverwandtschaft/spirituell“). Bei Roth kommt das alles irgendwie vor. Es zu ergründen bleibt Aufgabe der Literaturwissenschaftler oder Theologen. Für normal sterbliche Leser tritt einem Joseph als der große Aushalter entgegen, dessen Leben mit der Verkündigung umgewälzt und durchwalkt wird. Das leuchtet ein und reißt mit.

 

Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 510 Seiten, 24,90 €.

 

 

erschienen in der  FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 2012

Feb 2 12

Christine Lavant: Das Wechselbälgchen

Claus Brunsmann

Ein vor Jahren erschienenes Postkartenbuch zeigt die österreichische Schriftstellerin und Künstlerin Christine Lavant in verschiedenen Zusammenhängen. Man sieht die 1915 in Kärnten geborene Dichterin oft mit einem Kopftuch und tiefen Augenringen, die der mit ihr befreundete Künstler Werner Berg in einem Holzschnitt extra betonte, so dass Christine Lavant darauf fast so gespenstisch aussieht wie eine Figur von Edvard Munch. Am eindrucksvollstens aber ist eine Fotografie, auf der sie gar nicht zu sehen ist, nur ihr Schlaf- und Arbeitsraum im Hause der Freundin, bei der sie immer wieder wohnte, wenn sie nicht gerade im Krankenheim war. Man sieht ihr mit einer Wolldecke überworfenes Bett, auf dem Nachttisch eine große Packung der Zigarettenmarke, die sie rauchte, Bücher und eine einstielige Blume – und im Vordergrund eine große Schale, in der Strickzeug liegt. Wenn man weiß, dass Christine Lavant ihren Lebensunterhalt mit Stricken zu verdienen versuchte, erhält diese Strickarbeit im Zentrum des Bildes eine besondere Bedeutung. Und als sie dann mit Preisen gewürdigt wurde – unter anderem erhielt sie 1954 den Georg-Trakl-Preis und 1970 den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur – war das Stricken gleichwohl Symbol für das eiserne Ringen einer Autorin, die immer wieder vergessen zu werden droht.

Bei Suhrkamp konnte man Christine Lavant, geborene Thonhauser, 1987 mit Gedichten entdecken. Thomas Bernhard zeichnete als Herausgeber, der schrieb: „Es ist das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern mißbrauchten Menschen als große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist.“ Er meinte wohl die Armut, auch ein Leben mit Krankheiten, welche die Autorin begleiteten – Skrofeln, Lungentuberkolose, eine Mittelohrentzündung, worunter sie fast erblindete und ertaubte. Er muss aber auch die eigenwillige Sprache im Blick gehabt haben, Zeilen wie diese: „Während ich, Betrübte, schreibe, / funkelt in der Vollmondscheibe / jenes Wort, das ich betrachte, / seit die Taube mich verlachte, / weil ich aus dem Wasserspiegel / ohne Namen, ohne Siegel / in die Einschicht trat. / Wäre nicht die Saat / der Betrachtung groß geworden, / müßt ich Mond und Taube morden, / die mich ständig überlisten / und in meinem Schlafbaum nisten, / der davon verdorrt.“

Der Salzburger Otto-Müller-Verlag brachte einiges heraus. Inzwischen kümmert sich der Göttinger Wallstein Verlag um den Nachlass der 1973 gestorbenen Autorin und startet mit einem ersten Band, der die Lyrikerin als kraftvolle Erzählerin entdecken lässt: „Das Wechselbälgchen“ muss um 1945 entstanden sein und wurde erst 1997 im Archiv entdeckt, 1998 erstpubliziert. Die Ausgabe ist seit längerem vergriffen. Nun gibt es eine kommentierte Neuausgabe der Erzählung: Eine archaische, aus dem kargen Kärnten herausgemeißelte Parabel über das traurige Schicksal von Zitha, einem geistig zurückgebliebenen Mädchen, das uneheliche Kind einer Bauernmagd, die im katholischen und abergläubischen Milieu nicht Fuß fassen kann.

Die Erzählung führt tief hinein ins abgeschottete Lavanttal, das im selbst gewählten „Decknamen“ der Autorin anklingt. Als eines von neun Kindern, von denen zwei früh starben, wuchs Christine Lavant hier auf, der Sonne wegen oft gelagert auf dem Fensterbrett, von wo sie alle Gespräche verfolgen konnte. Die Mutter war im Dorf eine Art „Beichtiger“, wie Lavant schreibt. Man lud alle Probleme bei ihr ab, und sie „verwandelte“ alles mit einer „strahlenden, fast übermütigen Demut“. Diese Erfahrung, außerdem das eigene Kranksein mögen Christine Lavant inspiriert haben, das ganz andere Schicksal der einäugigen Bauernmagd Wrga und ihres hinterm Ofen hausenden, abgeschobenen, schwachen Kindes literarisch zu formen. Es schlägt einem dunkel entgegen wie eine uralte Sage, mit stark überzeichnetem Personal, dem Knecht „von den gläsernen Grenzbergen“ aus dem slowenischen Teil Kärntens, der in fremder Sprache flucht und immer einen Abwehrspruch auf den Lippen hat; mit der Magd, die hellauf lacht, bis man ihre „Schelchzähne“ sehen kann. Lavant nutzt Dialekt ebenso wie fremdklingende Wörter, „Saukaschpel“ für Schweinetrank oder die „Truta-Mora“ für den weiblichen Druckgeist, der sich nachts auf die Brust der Schlafenden setzt und den Atem nimmt. Und so entsteht aus diesen Elementen eine magische, irrationale, dörfliche Kapsel mit eigenen, gnadenlosen Gesetzen. Man kann diese Erzählung, wie Klaus Amann im Nachwort schreibt, als „Parabel über die Besessenheit“, die Vernichtung ‚unwerten‘ Lebens im Nationalsozialismus, lesen. Sie wirkt zugleich zeitlos und rau, sehr direkt, stringent komponiert und entwickelt einen sonderbaren Sog.

 

Christine Lavant: Das Wechselbälgchen. Erzählung. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Klaus Amann. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 104 Seiten, 16,90 €.

 

erschienen in der  FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 2012

Jun 3 11

Paula Fox: Woraus wir gemacht sind, ist bloß geliehen

Claus Brunsmann

Ihre Erzählungen sind Forschungsreisen in den Kontinent menschlicher Schwächen, ihre Biographie ist ein ergreifendes Dokument von Verlust und Tapferkeit: Zwei neue Bücher spiegeln die Größe der amerikanischen Autorin Paula Fox.
Ein Mann erhält nach Jahren Kontaktstille einen Brief von einem ehemaligen Schulfreund. Er antwortet ihm. Und weil sich oft erst beim Briefeschreiben ein Abgrund öffnet, schildert er dem Freund nicht einfach nur seinen Tag, sondern auch die quälende Stille nach der Arbeit. „Dann lausche ich meinen eigenen kleinen Geräuschen. Ich spiele mit der Kappe meines Füllers, schließe eine Schublade, lasse eine Büroklammer fallen und hebe sie nicht wieder auf.“ Schon liegt er da, der unscheinbare Gegenstand, in dem sich die Melancholie dieser Prosa verfängt. Erst später fällt sie ei- nem wieder ein, diese auf den Boden gefallene Büroklammer.
Vergessen, verlassen, versetzt zu wer- den ist eine Grunderfahrung im Leben der heute achtundachtzigjährigen amerikanischen Schriftstellerin Paula Fox. Den ersten scharfen Schnitt machen die El- tern schon wenige Tage nach der Geburt. Sie geben ihre Tochter in ein Heim für Findelkinder. Die Mutter ist zwanzig. Der achtundzwanzig Jahre alte Vater, ein Cousin des Schauspielers Douglas Fairbanks, schreibt mit wenig Erfolg Drehbücher und Theaterstücke. Aus dem Nichts tauchen sie immer mal wieder bei der Tochter auf und verschwinden jäh; Lebemenschen mit wenig Geld, sprunghaft, angezogen von Hollywood und der Künstlerszene New Yorks. Mit sieben wohnt Paula mit der spanischen Großmutter in „schuh- schachtelgroßen“ Wohnungen. Als sie elf ist, holen die Eltern Paula zu sich, reisen aber bald wieder ab und lassen sie bei der Haushälterin. Mit fünfzehn – das Paar ist inzwischen getrennt – quartiert sie der Va- ter allein in einer Wohnung in New York ein. Es folgen Internat, wechselnde Orte und Bezugspersonen. Der Vater bleibt ihr als Regelbrecher mit Charme im Gedächtnis, die Mutter als harsch. Die Ablehnung, unterbrochen von halbherzigen Ver- suchen, die Tochter in den chaotischen Alltag zu integrieren, ist das offene Rätsel des Lebens der Paula Fox. Die Mutter nennt keinen Grund – außer diesen: Sie habe schon vorher öfters abgetrieben, die- se Schwangerschaft aber zu spät bemerkt. Sätze wie aus Albträumen, deren Inhalt man nicht klar zu sehen wagt.
Kalifornien, Kuba, Florida, Montréal sind nur einige Stationen dieser Odyssee. Beziehungen, die in Brüche gehen. Und eine frühe Schwangerschaft – Paula Fox gibt als sehr junge Mutter selbst ihre älteste Tochter zur Adoption frei. Es gibt aller- dings eine stete Zeit in diesem unruhigen Leben, ein Boden unter den Füßen, der für einige Jahre betretbar scheint: „Onkel Elwood“. Der Geistliche nimmt Paula mit fünf Monaten bei sich auf, liest ihr vor, gibt ihr Halt und Sprache – das „in allem Ernst gesprochene Wort“. Mit ihm lässt Paula Fox auch ihre Geschichten einer Jutentielle Schwere, die Paula Fox ihnen ein- gibt, wenn sie im richtigen Moment schließt, eine Büroklammer fallen lässt oder Dialoge und Gesten so arrangiert, dass man die große Störung hinter den vielen kleinen irritierenden Alltagshandlungen aufbrechen sieht – „das Sichtbare und das Unsichtbare“, wie Bernadette Conrad in ihrem Nachwort schreibt.
Die besten Erzählungen aber betonen den Rang dieser großen amerikanischen Autorin und ihres Werks. Sie verwandeln sich die Doppelbödigkeit eines Lebens an, das geprägt ist durch die Erwartung von Unsicherheit, durch die Erfahrung einer Logik wie in „Alice im Wunderland“: Wenn etwas fällt oder verschwindet, kann es an einem anderen Ort wiederauftauchen oder auch an zwei Orten zugleich sein – durch Erinnerungen, Phantasie, Bücher. Von dieser ver- wirrenden Sehnsucht und der Aufhebung der Schwerkraft handelt das Werk.
Schon in diesem Buch, 2003 auf Deutsch erschienen, war einem Paula Fox’ Lebensgeschichte nahe gerückt, weshalb eine reine Biographie wie ein Anhängsel gewirkt hätte. Die Literaturkritikerin Bernadette Conrad geht einen anderen Weg. Sie fügt nach vielen Besuchen und Reisen zu den Wohnorten eigene Facetten hinzu: „Die vielen Leben der Paula Fox“ ist das Ergebnis einer sehr persönlichen Spuren- suche und selbst poetisch. Keine trockene Fleißarbeit, der es um möglichst viele De- tails geht. 2005 begegnete sie erstmals dieser Frau mit schnellem Schritt, „leicht und entschlossen, immer irgendwohin unterwegs“. Sie nimmt die abgerissenen Lebensfäden vorsichtig in die Hand, zwirbelt sie zusammen und wieder auseinander, fragt und hinterfragt. Sie erwägt Erklärungen an jenen Stellen, die Paula Fox klug be- schwiegen oder gewandt fiktionalisiert hat. Conrad will gar nicht erst den Ein- druck erwecken, dies alles gehe sie nur et- was als ordnende Biographin an.
Die Einlassung ist ihr Gebot. Das ist natürlich in der Folge einer wilden Form aus Reportage, Zitat, Interpretation, Fakten, Selbstbildmontage heikel und nicht immer frei von Übermut und Grenzüberschreitung. Lässt man sich aber auf ihre Bedingungen ein, auf den Mut zum distanzge- schwächten, gleichwohl respektvollen Subtext zu diesen „vielen Leben“, ergibt sich eine Art Ordnung zweiten Grades: Die har- ten, emotionalen Risse dominieren und spiegeln sich in Gesprächen mit Paula Fox’ Kindern oder dem Autor Jonathan Franzen, der sich für ihr Werk einsetzte.
Sie werden aber auch an die Zeit angeschlossen. Mobilität und Amerika als Einwanderungsland etwa dienen Bernadette Conrad als Begriffskulisse zur Beschrei- bung allgemeiner Zustände, etwa der Weggabepraxis, die lange vor Paulas Ge- burt begann, als Findelkinder in New York noch „mit Sünde infiziert“ waren. Anders als elternlose Waisen, recherchiert sie, galten sie weniger als Opfer, vielmehr als „von Gott und der Welt ver- lassen“. Conrad geht dieser Scham nach und ergründet, was „die scharfe Klinge des Lebens“ zu tun hat mit der „scharfen Klinge, mit der diese Autorin ihr Material Sprache bearbeitet“.
Im Alter von vierzig Jahren begann Pau- la Fox zu schreiben. Sechs Romane, zwei autobiographische Bücher, dreiundzwan- zig Kinderbücher liegen inzwischen vor – jüngst erschien ein neuer Band mit Erzählungen und Vorträgen: „Die Zigarette und andere Stories“ enthält Geschichten, in denen die scharfen biographischen Schnitte einen Abdruck hinterlassen ha- ben. Die Angst vor Verlust sitzt den Figuren im Nacken. Und wenn sie doch ein- mal nach langen Schweigezeiten vorsichtig Kontakt aufnehmen, passiert das oft ohne Sinn für die richtige Dosierung der Liebesgabe. Entweder verschenken sie sich ganz oder schrecken unangemessen zurück, wenn man sie zu lange berührt. Das richtige Maß für Nähe zu finden erfordert einige Energie. Keineswegs – und das ist das Besondere an diesen Geschichten – ergreift diese Anstrengung die Sprache. Vielmehr scheint es so, als transformiere das Erzählen die Beziehungsnot der verwundeten Figuren in zarte Verletzlichkeit.
Tatsächlich machen die meisten sogar vorm Abgrund halt. Sie greifen zum Telefon, um doch noch jemanden anzurufen. Sie unternehmen tapfer lange Fahrten zum lange vermiedenen Vater, ohne Antworten zu finden. Oder sie warten nach Beerdigungen, bis sie in dunklen Räumen sitzen, um endlich schreien zu können, doch immer allein. Nicht alle Erzählungen aus den letzten knapp 45 Jahren in diesem vermischten Band haben die existentielle Schwere, die Paula Fox ihnen ein- gibt, wenn sie im richtigen Moment schließt, eine Büroklammer fallen lässt oder Dialoge und Gesten so arrangiert, dass man die große Störung hinter den vielen kleinen irritierenden Alltagshandlungen aufbrechen sieht – „das Sichtbare und das Unsichtbare“, wie Bernadette Conrad in ihrem Nachwort schreibt.
Die besten Erzählungen aber betonen den Rang dieser großen amerikanischen Autorin und ihres Werks. Sie verwandeln sich die Doppelbödigkeit eines Lebens an, das geprägt ist durch die Erwartung von Unsicherheit, durch die Erfahrung einer Logik wie in „Alice im Wunderland“: Wenn etwas fällt oder ver- schwindet, kann es an einem anderen Ort wiederauftauchen oder auch an zwei Orten zugleich sein – durch Erinnerungen, Phantasie, Bücher. Von dieser ver- wirrenden Sehnsucht und der Aufhebung der Schwerkraft handelt das Werk der Paula Fox.

Paula Fox: „Die Zigarette und andere Stories“.
Aus dem Englischen von Karen Nölle und Hans-Ulrich Möhring. C. H. Beck Verlag, München 2011,
255 S., geb., 19,95 €

erschienen in der  FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 3. Juni 2011

Apr 30 11

Bernd Brunner: Porträt

Claus Brunsmann

Der Mensch und der Mond führen eine merkwürdige Beziehung. Distanziert, muss man wohl sagen. Aber keineswegs ohne Leidenschaft. Was vielleicht daran liegt, dass man so lange so wenig voneinander wusste. Welche Geschichten fantasiebegabte Menschen im Laufe von Jahrhunderten auf die Umlaufbahn schickten, erfährt man in Bernd Brunners Buch „Mond. Die Geschichte einer Faszination“. Und so skurril sich dort diese Beziehung zwischen Himmelskörper und Mensch ausnimmt, so skurril liest sich Brunners eigenes Werkverzeichnis, entstanden aus Fragen, die eher Kinder stellen: Wie kommt das Meer nach Hause? So heißt sein Buch über die Erfindung der Aquarien. Und wer hat eigentlich den Weihnachtsbaum erfunden? Nachzulesen bei Brunner in diesen vorweihnachtlichen Tagen. Wiederum geht es da viel um Projektion, um das, was Menschen damit verbinden. Der Baum als Traum, wo sich verschiedene Dinge verdichten.

Bernd Brunner wollte immer erzählen, nicht dozieren oder aufzählen. Er testete die Grenzen zwischen Essay und Literatur. Jetzt ist er also Sachbuchautor. Was das überhaupt ist? Er bleibt bescheiden, es dauerte ein paar Bücher, bis er das über sich selbst sagte. Der Weg scheint inzwischen klar und seine Talente bestmöglichst genutzt, eine neue Idee sogar schon in Sicht: Das Leben in der Horizontalen. Es wird übers Liegen gehen und wie verschiedene Kulturen das handhaben. Auf solch eine Idee muss man erst mal kommen.

Sein erstes Sachbuch handelte von uns und einem Tier: „Bär und Mensch“. Seltsam, dass Menschen sich manchmal so nennen, gerne dann im Diminutiv: Bärle. Oder Bärchen. Und dann der Teddybär, so einen hatte Brunner selbstverständlich auch. Plötzlich war die Idee da, so wie Ideen einfach da sind, ohne dass man genau weiß, woher sie kommen. Er begeisterte dafür einen Verlag, forschte, sammelte und schrieb die Geschichte dieser Beziehung. Der Bär also, ein Objekt, das er – wie den Mond – schlecht anfassen konnte. Dabei, sagt er heute, bahnte ihm gerade das Anfassen, das Fühlen den Weg. Als Kind Steine, Wurzeln, Früchte sammeln. Dann der Blick durchs Mikroskop ins Innere, das so anders aussah als der Gegenstand von außen. Die filigrane Landkarte aus Seen und Äderchen faszinierte ihn. Ein Naturwissenschaftler ist trotzdem nicht aus ihm geworden. Nach einer Banklehre hat er BWL studiert, aus Vernunftsgründen, und anschließend journalistisch gearbeitet, auch beim Fernsehen, die Wirtschaftsthemen, „Späth am Abend“ zum Beispiel. Dann der Bruch mit der Wirtschaft und noch ein Studium, diesmal Kulturwissenschaft und Amerikanistik, einige Semester davon auch in Seattle. „Nach Amerika. Die Geschichte der deutschen Auswanderung“ schrieb er dort, zunächst auf Englisch. Jetzt drückt er sich lieber wieder in der Muttersprache aus, da ist er spielerischer und literarischer. Unternehmerischen Geist treibt ihn immer noch, beispielsweise bei der Suche nach Verlagen, gerne immer andere. Brunner tritt ein für seine Bücher, die in acht Sprachen übersetzt sind, ganz vorne: Japan. Warum sich gerade Japan für seine Themen interessiert, weiß er selbst nicht recht.

Vielleicht ist es die Aufmachung der Bücher, ihr Bildcharakter: Blättert man sie durch, verweilt man gerne bei filigran gezeichneten Graphiken, die illustrieren, was Brunner gerade erklärt. Im Aquariumsbuch etwa das Bild zweier Akrobatiker, am Uferrand eines Gewässers mit Verrenkung beschäftigt, während unter ihnen ein großer Tintenfisch im Wasser schwimmt, formgleich wie die verbogenen Turnerkörper. Tatsächlich hatten, so lesen wir, im 18. Jahrhundert französische Forscher beim Ringen um Verständnis des rätselhaften Tintenfisch-Körperbaus Parallelen gezogen zwischen den Bewegungen des Meerestiers und der Akrobaten. Und wir tauchen mit Brunner weiter in die Tiefe, wo Lebewesen wohnen, die unseren Vorstellungen von Monstern gar nicht so unähnlich sind. Mit dem aus der Tiefsee ans Tageslicht beförderten Wissen kommen Rätsel, abstruse Noterklärungen und Emotion.

Kulturgeschichte, so zeigt Brunner in allen Büchern, ist immer auch eine Folge von Projektion, dem Bedürfnis entsprungen, das Unerklärbare handlich zu machen. Und es wundert kaum, dass George Fowlers 1813 in seiner Erzählung „A Flight to the Moon“ eine „Wolke, so weiß wie Milch“ beschreibt, die sich bei näherer Betrachtung als weibliche Schönheit entpuppt, mit einer Haut „so weiß wie langsam fallender Schnee“, mit rosafarbenen Wangen und Lippen und Augen so hell wie funkelnde Diamanten. Mit zarten Worten lädt sie den Helden in ihre Welt ein: „Du bist dazu bestimmt, den Mond zu besuchen!“

Der Mond, der Bär, die Wassertiere, der Weihnachtsbaum – alle eignen sich beim Betrachten hervorragend zur Umstülpung der eigenen Innenwelt. Brunners Bücher mit ihren vielen Bildern sind Archive, in dessen Mappen die Träume, die Visionen, die Ängste der Menschheit lagern. Das Internet hat ihm die Spurensuche erleichtert. Privatarchive waren besser auffindbar und nicht mehr nur Zufallsfunde. Als er noch während des Studiums das erste Buch von Wolfgang Schivelbusch las, über die Geschichte der Eisenbahnreise, war das Erkenntnisinteresse festgelegt: Die Geschichte der Eisenbahnreise als Mentalitätsgeschichte. Schivelbusch vermittelte nicht trockenes Wissen, sondern ein Drama. Er erzählte, wie die Eisenbahn in die Menschen regelrecht hineingebrochen ist und ihr ganzes Empfinden von Zeit und Raum veränderte. Solche Zusammenhänge wollte auch Brunner anschaulich machen. Er selbst sieht sich zuständig fürs populäre Sachbuch, ohne akademischen oder theoretischen Anspruch. Gleichwohl verleibt er sich schwierige Texte ein, um danach die Position zu vereinfachen, auch das eine Herausforderung. Er erzählt, was ein Mondregenbogen ist, warum wir den bleichen Erdbegleiter fälschlich als weiß erleben und wie die katholische Kirche und Maria sich zu ihm verhalten. Er fragt, ob er ein Geschlecht hat und schaut nach, wer ihn alles bedichtet hat. Bei aller Kulturgeschichte vergisst Brunner nicht die technische Seite, die Apparaturen. Seine Bücher führen Kultur- und Naturwissenschaften zusammen. Von dieser Begegnung zu erzählen wie in einem „Kinderbuch für Erwachsene“, ohne verniedlichende Sprache, ist Brunners Ideal.

Vielleicht ist das die Erklärung dafür, warum seine Bücher bei aller Seriosität und jenseits ihrer Vielfalt merkbar an zwei archaischen Kindheitspfeilern entlang geschrieben sind: Bedrohlichem und Visionärem. So auch in Bernd Brunners aktuellem Buch über den Mond. Licht und Schatten strukturieren es, die immer heller alle Mondwinkel ausleuchtende Geschichte der Wissenschaft auf der einen Seite, und der Mond unserer dunklen Gedankenwelt auf der anderen Seite. Brunner zeigt den Mond als Studienobjekt wie Projektionsfläche. Realität und Fiktion, so erweist sich, sind dabei keineswegs komplett voneinander getrennt. Im Gegenteil: Oft sind sie, und das ist vielleicht das Erstaunlichste an dieser Übersicht wie an den anderen, eng miteinander verzahnt.

Jetzt ist Bernd Brunner erst einmal spontan umgezogen, von Berlin nach Istanbul, das ihn inspiriert. Und wo er, trotz seines Buches über die Erfindung des Weihnachtsbaums, nach wie vor keinen eigenen Weihnachtsbaum schmücken wird. Eine Lichterkette im Fenster genügte ihm bislang. Man darf gespannt sein, welche Themen sie künftig noch alles beleuchtet – jenseits der aktuell entstehenden Geschichte über das Leben in der Horizontalen.

Von Bernd Brunner erschienen:

erschienen auf  ZEIT ONLINE, 2011

Nov 30 10

Ulla Hahn: Aufbruch

Claus Brunsmann

Hilla Palm – das ist, obwohl gern vermutet, nicht etwa eine Anspielung auf Hildegard Domin, die Lyrikerin und eine verheiratete Palm. „Dat“ Hilla und auch der Nachname Palm sind schlicht beliebte Kölscher Name. So beliebt, dass Ulla Hahn, selbst bekanntlich auch Lyrikerin, in ihrer autobiografisch grundierten Prosa ihre Protagonistin eben Hilla Palm nannte. Das erzählt sie jedenfalls gerne in Interviews. Die Erkundung ihrer Wurzeln schon im ersten, bereits verfilmten Roman „Das verborgene Wort“ (2001) verband sich dabei untrennbar mit der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in den fünfziger Jahren. Auch die Fortsetzung „Der Aufbruch“ transportiert nicht nur die Sicht einer Heranwachsenden, die durchs Wort, durch die Begeisterung für Literatur zum Leben findet. Diese Prosa, nun bei den 60er Jahren angekommen, atmet durch die Zeit, in der sie spielt; durch den Einzug des Quelle-Katalogs in die Provinz; das Aufklappen des Fernsehers in der Küche, dem einzig beheizten Raum im Haus; durch die vielen, oft unreflektierten Rituale, die Ulla Hahn in beiden Romanen zusammenträgt. Volksnah und drastisch erzählt sie vom Aufwachsen Hillas im katholischen Rheinland. Der Großvater war diesem Mädchen stets eine Lichtgestalt. Sein „lommer jonn“, lass uns gehen, zieht sich wie ein Lockruf durchs unterkühlte Erziehungslabyrinth der Eltern. Man meint diesen Ruf auch im zweiten Teil noch zu vernehmen. Hilla ist inzwischen Oberstufenschülerin kurz vor dem Abschluss, ihr Ziel nach wie vor die Befreiung aus einer Familie, die Bildung nicht vorsieht.

Das hat seinen Preis, schleichen sich doch Inbrunst und Sehnsucht dieser strebenden Figur Hilla mitunter etwas mustergültig zwischen die Zeilen. Doch man kommt nicht umhin, die planvolle Hand hinter dieser Ich-Perspektive zu bewundern. „Bööscher? Nä, hatte der Vater gesagt. Aber ich bekam eine Zahnspange“, heißt es schon lapidar im ersten Band. Auch jetzt gilt Ulla Hahns Liebe dem Aufeinanderprall unterschiedlicher Welten. Das Arbeitermädchen, das beim Lesen der Philosophen einen „kalten Jubel im Kopf“ verspürt, erhält unverhofft Türöffner – für das Studium in Köln und einen Platz im Wohnheim; nicht nur finanzielle Helfer, auch solche, die sie bestärken, das zu tun, was sie will. Früh bewirbt sich ein wohlhabender „Campari-Mann“ um die junge Dame, der ihre Wissbegier schätzt und ernsthaft anbietet: „Ich hol dich da raus“. Doch Hillas Credo heißt „Leistung statt Almosen“. Später sind es andere Lichtgestalten, zwischen die sich allerdings auch Traumatisierendes schiebt. Es scheint sogar, der Roman ebenso wie die Hartnäckigkeit der Figur seien um dieses Ereignis, eine Vergewaltigung, herumgeschrieben. Alles erhält dadurch einen anderen Ausdruck.

Wie hier überhaupt Tonarten einander abwechseln, wie hier die Lesenden umschmeichelt werden, wie hinter vorgehaltener Hand Unsagbares mitgeteilt oder prall vom Alltag gesprochen wird, interessiert und überzeugt. Und es fehlt auch diesmal nicht an jener poetischen Kraft, die Ulla Hahn immer wieder mit jenen sogenannten „Buchsteinen“ beschwört, die auch graphisch die einzelnen Abschnitte voneinander scheiden: Fund- und Sammelstücke des Großvaters, der die Kinder anhielt, Geschichten in die von der Natur imprägnierten Schnörkel hineinzulesen. Diese Gabe, die Wirklichkeit zu vergrößern, verlässt auch die Erzählerin nie. Bisweilen schüttet sie ihre Früchte etwas üppig aus. Wer das nicht scheut, fühlt sich in eine andere Zeit zurückversetzt. Man trägt auch an warmen Tagen lange Wollstrümpfe. Es gibt Tanzstunden, gebauschte Strickjäckchen, goldene Ketten mit Kreuz. Und jetzt, in den 60ern, eben die neue Welt, die durch den Fernseher eindringt, aufgespannt zwischen Kriegsverbrecherprozessen und Grzimek. Dialekt, Latein, Sprachspiele halten den erzählerischen Ton frisch. Darunter blitzen die Nöte derer auf, die im ersten Band vom Kind noch unverstanden blieben: die der Eltern. Hilla beginnt zu verstehen. Und so wird dieser zweite Roman tatsächlich im doppelten Sinn zum „Aufbruch“: in freies, unabhängiges Denken; aber auch zum Aufbruch der verkrusteten emotionalen Häute einer ganzen Generation. Ein dritter Band ist in Arbeit. Schön, wenn dieser Weg weiterverfolgt wird.

 

Ulla Hahn: Aufbruch. Roman. Deutsche Verlagsanstalt, München 2009, 592 Seiten, 24,95 €.

Erschienen in der Stuttgarter Zeitung, 2010

Jun 30 10

Chaim Be’er: Bebelplatz

Claus Brunsmann

Es ist Nacht, als ein israelischer Schriftsteller, während einer Konferenz zu Gast in Berlin, auf den Bebelplatz, vormals Opernplatz tritt. Zu seinen Füßen betrachtet er die in den Boden vom Künstler Micha Ullman eingelassene Glasplatte, darunter den leuchtend weißen Raum mit leeren Regalen, der an die Bücherverbrennung mahnt. Hier, sagt sein Begleiter Schlomo Rappoport, Antiquar in Berlin, tat am 10. Mai 1933 die Erde ihren Mund auf. Hier, zu Füßen der Leute, „und sie sahen es und schrien nicht“. Wir sind schon mitten drin im Roman „Bebelplatz“, der viele Geschichten erzählt, von Auswanderern, einer deutschen Philologin und einem israelischen Immobilienhai, vom Sohn eines hohen Militärs der Nazizeit, von manischen Büchersammlern und Instituten, die sich um einen sicheren Ort für jüdische Schriften sorgen. Und so, wie das Studium des Talmud Austausch und quirliges Gespräch entfachen soll, überzeugt auch dieser Roman weniger durch einen zwingenden Handlungverlauf, vielmehr durch den melodiösen Kontrapunkt, der sich aus Rede und Gegenrede der Figuren entwickelt. Man fragt, bohrt nach, spielt mit Wissen, kontert scharf, freut sich auch mal heimlich an der Unbelesenheit des Anderen oder erzählt enthusiastisch. Das schafft authentische, charismatische Figuren mit Stärken und Schwächen. Und so folgt man als Leser gern dieser gewandten Rhetorik. Unvermutet entdeckt man immer wieder neue Lebenlinien, die sich quer über Kontinente spannen und geheime Verbindungen freilegen; oder man verweilt bei einer kleinen Geschichte, die plötzlich das Gewicht eines Gleichnisses erhält, das die Augen für Namenloses öffnet.

Chaim Be’er heißt der hier erzählende Schriftsteller im Roman, so wie der Autor selbst, der, 1945 geboren, in einer orthodoxen Familie in Jerusalem aufwuchs. Ein Aufenthalt im Literarischen Colloquium führte ihn nach Berlin in die Villa am Wannsee. Hier lässt er nun Gelehrte aus aller Welt in einer konspirativen Runde aufeinandertreffen. Alle verbindet die Leidenschaft fürs Buch. Schlomo Rappoports Leben etwa ist schicksalsträchtig damit verhaftet. Während er und die Mutter der Nazigreuel entkam, blieb sein Vater – wegen der Bücher. Mit einem der letzten Transporte von Berlin-Grunewald hat man ihn nach Bergen-Belsen deportiert. Von der Bibliothek blieb nichts. Bis heute sucht Rappoport nach einem Buch seines Vaters und nach solchen Büchern, die gar nicht erst in Umlauf gelangten, weil sie noch in der Druckerei verbrannten. Jetzt, auf dem Bebelplatz, während der Schnee schräg fällt und der Sturm immer stärker wird, während der Antiquar Untergangsstimmung verbreitet und vom allesverschlingenden Charakter der Erde spricht, treffen die Erinnerungen aufeinander und bilden einen weiteren gespenstischen Kontrapunkt. Berlin als Ort dieser Begegnungen ist ebenso wichtig für Struktur und Wirkung dieses Romans wie das Spiel aus Rede, Gegenrede und Schweigen. Insbesondere der Wannsee. „Auf der einen Seite des Sees verschluckte die Dunkelheit das Gästehaus der SS, und rechts davon leuchteten einige Lichter der Halbinsel Schwanenwerder, auf der in ihren glücklichen Jahren Vater Joseph Goebbels und Frau Magda mit ihren sechs süßen Kindern gewohnt hatten.“

Die Leere und „der Abgrund zwischen den verschiedenen Ebenen der Existenz“ blitzen wie in tausendfach angeordneten Spiegeln auf. Be’er arbeitet damit metaphorisch, theologisch, biografisch. Er verbindet dabei die Leere mit Fülle, die negative Assoziation mit der positiven, die in dieser verwirrenden Zweideutigkeit noch deutlicher im Originaltitel anklingt: „lifnej ha-makom“ (2007) heißt „Vor dem Platz“. „Platz“, erläuterte der Autor in einem Interview, verweise im Hebräischen auch auf Gott. Denn in der hellenistischen Zeit ließ man einen Buchstaben aus, wenn man Gottes Namen schrieb. Man hielt einen Platz frei. Am Bebelplatz mit seiner unterirdischen leeren Bibliothek fragt Schlomo Rappoport: Wo war Gott während des Holocaust?

Schmerz und Hoffnung, gespeist aus der Geschichte der europäischen Juden bis zur Situation im heutigen Israel, sind Leitströme dieser vielschichtigen Prosa. Alle Romanfiguren begegnen der Angst vor dem Verlust jüdischer Kultur auf unterschiedliche Weise. Chaim Be’er etwa arbeitet an einem Buch über einen Mann, der eine Bibliothek außerhalb Israels errichten will – eine „Sicherheitskopie“ für den Fall, dass der Staat Israel untergeht. Das Romanprojekt steckt allerdings fest – wegen der „plötzlichen Nähe zur Wirklichkeit“ in Berlin, wo die böse Ahnung einer bücherlosen Welt ein reales Vorspiel hat. Und so sammelt er in den vielen Begegnungen Mosaiksteine, statt einem glatten Erzählplan zu folgen. Der alte Roman geht im Neuen auf, mit Fragen und Reflexionen, die sich um eine kleine, angedeutete Liebelei legen und viele Rätsel lassen. Gerade aber an den ästhetischen Bruchkanten, an den anspruchsvolleren Passagen von „Bebelplatz“, verdichtet sich das hier angehäufte Material zum zentralen Thema, das die Romanteile verstrebt und trägt: Wie überdauert der Geist, das Wort, eine ganze Kultur? „Bebelplatz“ erzählt schließlich auch von der Dringlichkeit, Kultur nicht nur zu bieten, sondern zu empfangen – was im Falle Chaim Be’ers, dessen Werk mit historischen wie jüdisch-religiösen Bezügen durchzogen ist, eine besondere Herausforderung ist. Die Übersetzerin Anne Birkenhauer, die unter anderen auch David Grossmans Romane sensibel aus dem Hebräischen übertrug, ist sich dieser Schwierigkeit bewusst und erläutert in einem Nachwort ihre genau abgewägten Entscheidungen. In Absprache mit dem Autor hat sie an einigen Stellen unauffällig Überbrückungshilfe geleistet, an anderen Stellen um explizitere Formulierungen gebeten, damit Anspielungen auf Bibelzitate und andere Assoziationen verstanden werden. So ist diese deutsche Ausgabe tatsächlich neben dem Original eine weitere Version, für die man dankbar sein kann, weil sie die Komplexität des Themas auf der sprachlichen Ebene begleitet.

Chaim Be’er: Bebelplatz. Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Berlin Verlag, Berlin 2010. 319 Seiten, 24,90 €.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2010

Okt 30 09

Wilhelm Genazino: Die Angst war überflüssig

Claus Brunsmann

Anja Hirsch (Frankfurter Rundschau) im Gespräch mit Wilhelm Genazino.

Interview

Alles wie immer? Der Angestellte und Frankfurt-Flaneur Dieter Rotmund ist ein typischer Genazino-Held: durchschnittlich melancholisch, aber gefasst – selbst dann noch, als seine Frau ihm gesteht, sie könne seine Stimme nicht mehr hören. „Mittelmäßiges Heimweh“, der neue Roman des Büchnerpreisträgers von 2004, handelt wieder einmal vom Innenleben eines Mittelmäßigen. Aber eines ist diesmal anders: Es lösen sich Körperteile von ihren Besitzern, und seltsamerweise scheint das lange keiner zu bemerken.

Frankfurter Rundschau: In Ihrem neuen Roman Mittelmäßiges Heimweh fällt einem Mann ein Ohr ab, später ein kleiner Zeh. Wie nehmen denn Ihre Leser das auf?

Wilhelm Genazino: Ich bin irritiert und auch beruhigt, dass sehr vielen Lesern, mit denen ich bis jetzt schon gesprochen habe, das Gefühl, dass sie zuweilen ein Körperteil verlieren, dermaßen vertraut ist, dass man es ihnen nicht erklären muss. Der Leser nimmt die Sache als Gefühl auf. Er ist klüger als der bloß den Realismus verfolgende Theoretiker, der immer gleich erklärt haben möchte: Wie soll man das denn jetzt verstehen?

Die Psychoanalytiker würden sagen: Klarer Fall von Kastrationsangst.

Und damit wäre der Fall auch schon erledigt. Diese Lesart greift mir doch entschieden zu kurz.

Nietzsche schrieb: „Das Ohr ist das Organ der Furcht.“ Warum muss sich Ihr Ich-Erzähler gerade vom Ohr verabschieden?

Ein schöner Satz – aber das hatte bei mir schlicht praktische Gründe: Das Körperteil musste klein sein. Sein Verschwinden durfte nicht übermäßig auffallen.

Offenbar fällt es auch nicht auf, jedenfalls fragt niemand nach dem Ohr.

Ja, das fehlende Ohr – die Katastrophe – wird sofort Alltag. Ähnliches macht man ja etwa mit einer Reportage über ein Erdbeben – die Menschen entfernen es in irgendeine traumartige Weite, die von ihrem realen Leben ganz weit entfernt ist.

Würde es Ihren Helden beruhigen, wenn man ihn auf sein fehlendes Ohr anspräche?

Das wäre Temperamentssache. In meinem Bekanntenkreis gibt es Menschen, die unter bestimmten Einschränkungen leiden. Und die wollen darauf angesprochen werden, damit sie selber darüber sprechen können. Es gibt ihnen dann eine gewisse Genugtuung, auch ein Leidensdarsteller zu sein. Aber es gibt ebenso viele Beispiele für die andere Sorte von Menschen, die darauf nicht angesprochen werden wollen. Es wurde ihnen selber überdrüssig, sich mit einem Leid zu profilieren.

Es irritiert aber doch, dass alle sich ganz schnell an diese Ohrklappe gewöhnen, die der Mann da mit sich herumträgt.

Ja, aber er selbst sieht das nicht. Er meint: Alle anderen beobachten ihn. Alle fordern Erklärungen von ihm. Und er will ununterbrochen wissen: Ist denn eine neue Weltseuche im Ankommen? Läuft die Apokalypse, ist sie jetzt endgültig angebrochen?

Und – ist sie? Er scheint ja nicht der Einzige zu sein, dem Körperteile abfallen. Man denkt sofort an das Jüngste Gericht. Ist das impliziert?

Das kommt auf den Echoraum an, den der Leser für sich öffnet. Es ist völlig richtig, dass in den Religionsgeschichten die Gottesstrafe vor Seuchenmaßnahmen nicht zurückschreckt. Selbst die menschlichen Gerichte haben diese apokalyptischen Strafen für sich eingeführt. Denken wir an die im Mittelalter noch praktizierten Strafen, dass ein Gericht einem Dieb die Hand abhackte. Das ist auch ein Körperteilverlust, und zwar einer, der als Strafe verhängt ist.

In Ihrem letzten Roman, Die Liebesblödigkeit (2005), gibt der Held Seminare über die Apokalypse. Jetzt ist sie eingetreten. Mittelmäßiges Heimweh – ein Fortsetzungsroman?

Man kann das als Anwendung der Theorie lesen, es wäre mir aber zu eindimensional. Dass irgend etwas verseucht ist, das ist ja in unserer Gesellschaft längst eingedrungen. Mal ist es das Wasser, mal das Fleisch, mal das Blut. Wir sind ja alle gewiefte Apokalyptiker. Die plötzlich eindringende Seuche ist ein Modell, das sowohl für die Literatur gilt als auch für die eingetretene Wirklichkeit.

Ihr Held wird trotzdem Finanzchef. Kann sein Schrecken mit niemandem mehr geteilt werden?

Es kommt darauf an, zu sehen, dass die ganze Sorge, ob man ihm seine Beschädigung ansieht oder nicht, ihrerseits längst vergesellschaftet ist. Alle anderen wissen, dass sie selbst auch einsam sind. Aber alle anderen haben sich längst darüber verständigt, dass man sich darüber nicht mehr besonders aufregen muss. Nach Lage der Dinge ist das unser Schicksal. Nur der Einzelne, der das nicht weiß, denkt, er sei eine Ausnahme. Das, wovon er glaubt, es sei eine individuelle Befindlichkeit, ist als individuelle Befindlichkeit längst vergesellschaftet. In Wahrheit hat man seine Isolationsgefühle längst für ihn mitgedacht.

Seine Angst, nun auch beruflich geächtet zu werden, war also im Grunde überflüssig?

Ja, das ist besonders merkwürdig: Seine ganze Angst war vergeblich. Das erinnert an den großartigen Satz von Kafka, der mir jetzt einfällt, über seine Angst: dass die ganzen Ängste, die er hatte, möglicherweise völlig überflüssig waren.

In Ihren Büchern wimmelt es von sogenannten Randfiguren der Gesellschaft, doch sie kommen selten selbst zu Wort. Wird es einmal einen Roman aus der Sicht eines Obdachlosen geben?

In meinen Augen ist der Controller ohne Ohr eine Nebenfigur. Er ist eine Dutzend-Erscheinung, ein Nobody, ein Angestellter, der seinen Arbeitstag hinter sich bringt.

Aber eine Dutzend-Erscheinung sagt nicht Sätze wie: „Die ruhige Betrachtung unfähiger Menschen bringt Versöhnung hervor.“

Man muss dem Text zugute halten, dass er offen hält, von wem der Satz kommt. Genau genommen wird hier ein Satz eingeschmuggelt, der offen lässt: Wer sagt ihn eigentlich? Insofern macht der Schriftsteller von einem alten Trick Gebrauch, dass nämlich derartig bedeutsame Sätze völlig herrenlos im Text herumschwimmen. Man kann sich den Kopf krummdenken, um herauszufinden: Wer soll das denn jetzt gesagt haben? Es gibt doch immer wieder diese herrenlos hereinströmende Bedeutsamkeit.

Ihr Buch hört eigentlich da auf, wo José Saramagos Buch Die Stadt der Blinden anfängt.

Nichts gegen den verehrten Kollegen Saramago, den ich sehr schätze. Aber ich wollte das nicht gesellschaftlich verhandelbar machen, weil ich dann gefürchtet hätte, in einer schlechten Science Fiction zu enden. Diese Art von gesellschaftlichem Realismus interessiert mich nicht. Mich interessiert das Subjekt und die Ratlosigkeit, wo es mit seiner Angst hin soll.

Mittelmäßiges Heimweh, 189 Seiten, 17,90 Euro, Carl-Hanser-Verlag.

Erscheinungsdatum 30.01.2007

Jun 29 09

Carl-Henning Wijkmark: Nahende Nacht.

Claus Brunsmann

Gemeinhin folgt man Ich-Erzählern recht gerne in ihre Gedankenwelten. Jedenfalls dann, wenn sie entsprechend packend erzählen können. Zu wissen, dass der Erzähler seinem baldigen Tode entgegen denkt – wie in Carl-Henning Wijkmarks Roman „Nahende Nacht“ – erfordert hingegen ein besonderes Vertrauensverhältnis. Was, wenn er uns in Abgründe zieht, die wir jetzt noch nicht erkunden wollten? Hasse, die Hauptfigur im neuen Roman des 1934 geborenen Schweden, macht es uns leicht. Er umgibt sich schon zu Beginn seines letzten Krankenhausaufenhaltes mit klugen Büchern über die Kunst des Sterbens. Das schafft ein wenig Sicherheit. Und eben weil es so leicht fällt, ihm zuzuhören, gibt man ihn am Ende dieser kleinen Sterbensnovelle so ungern her.

Seine Erzählerposition ist so haltlos wie seine Lage. Man wundert sich nicht einmal, wie er das alles hat schreiben können, wo er doch am Ende sogar seine sterbliche Hülle verlässt: „versuche, die Beine über die Bettkante zu heben, aber ein riesiges Gewicht presst sie fest. Es ist kalt. Will den Arm heben, um Licht zu machen, aber er rührt sich nicht. Das ist alles. Nie mehr.“ Auch die Realität gibt bekanntlich keine Todesberichterstatter her. Was diesen hier dennoch so vertrauenswürdig macht, ist nicht seine Belesenheit, sondern seine entwaffnende Offenheit. So radikal hat zuletzt vielleicht Philip Roth in seinem Roman „Jedermann“ (2006) über das Verlöschen geschrieben; wie sich dessen Protagonist minutiös von einem Totengräber die Prozedur des Ausschaufelns erklären lässt, gehört zu den ergreifendsten, rätselhafter Weise sogar zu den beruhigendsten Szenen der jüngsten Literaturgeschichte über dieses Thema. Wijkmark ist ästhetisch gesehen genauso konsequent. Als Autor, der mit seinem Buch „Der moderne Tod“ (1978) schon früh die Überalterung thematisierte und sich in seiner Heimat Schweden an der Debatte um Sterbehilfe beteiligt (FAZ vom 22.8.09), verfolgt er aber noch ein anderes Ziel: das Sterben in Krankenhäusern aus der Sicht des Betroffenen zu schildern. Das hätte schnell eine pflichtversessene Etüde ergeben können, die auch noch den kleinsten, informativen Todestriller mit Fleiß hebt. Nichts davon ist „Nahende Nacht“.

Woran liegt das? Wijkmark gestaltet diese letzte Phase nicht als geradlinige Talfahrt. Es gibt Höhepunkte – Georg, der den Bücherwagen des Hospitals schiebt; das Herein- und Herausschweben der Schwestern; traumartige, prächtige Farben, die das Morphium dem Todkranken beschert. Und es gibt Variationen, wenn Hasse statt in Farben in tiefere, meditative Zustände versinkt. Dann tauchen Menschen aus der Vergangenheit auf, ja, es kommt „zu regelrechten Themenabenden“, zu Gesprächen, denen er lauscht, ohne selbst mitzureden. Nur einmal geht ein Ruck durch die Erzählung, als sich die beiden Mitsterbenden, mit denen Hasse noch zuvor gerne über den Tod debattierte, nachts von der Schwester ein Festmahl servieren lassen. Mit Wodka trinken sie sich entschlossen in den Tod. Danach ist Hasse sich selbst überlassen, wiegt Jenseitsvorstellungen des ägyptischen gegen das tibetische Totenbuch ab, um sich abzulenken – und beobachtet: wie man darauf wartet, dass auch er das Zimmer räumt, weil das die Kosten senkt; wie seine Lebenskraft kommt und geht und warum; wie jetzt öfters geputzt wird; und wie in diesen spätherbstlichen Tagen erst eine Taube, dann eine Fledermaus durchs offene Fenster flattert. Es wird nie direkt ausgesprochen. Aber man ahnt, dass die liebreizende Schwester Angela auch mehr reichen kann als die vorgesehene Dosis.

„Nahende Nacht“ ist selbst geschrieben wie ein wundersamer Traum mit wachen Episoden. Die Welt wird zwar enger. Aber dabei erzählt sich in fließender und genauer Sprache nicht der Tod, sondern das Leben, während man es zugleich hinter dem Vorhang verschwinden sieht – wie den ehemaligen Theatermann Hasse früher auf der Bühne. Hasse federt zwischen allem und bezieht keineswegs eindeutige Positionen. Mal wundert ihn das „Verbrauchen und Wegwerfen“ des menschlichen Lebens, und er will eine zweite Chance; dann wieder darf es ruhig schmerzgelindert verglühen. Je nach momentanem Zustand würde er auf die Frage nach Sterbehilfe anders antworten. Den professionellen Tröstern der Kirche misstraut er. Obwohl auch er immer deutlicher eine Sprache der Liebe pflegt.

Wijkmark spart das Körperliche nicht aus. Aber er zieht es ein wie die zwingende Handlungsebene eines Dramas, bei dem wenige Requisiten ausreichen, um das Leiden aufzurufen: die „Sandpapierzunge“ oder „diese qualmende Trockenheit, der Rauch, der mit meinem Körper abzieht“. Als löse er uns selbst aus diesem Drama sanft heraus, begleitet er in der Abgeschiedenheit dieses kleinen Zimmers seinen zum Sterben sich bereit haltenden Mann ganz langsam, ohne Eile, in jenen anderen Zustand; durch „kurze Schübe einer eiskalten Todesangst“, wenn die Kraft es zulässt; aber schließlich auch hinein in eine „Vereinfachung“, vor der sich alles verflüchtigt. Er macht ihn dabei milde. Und je mehr Hasse dank seiner zähen Widerständigkeit dieses Haschmich-Spiel mit dem Tod durchschaut, desto mehr Gewicht scheint von ihm abzufallen.

Man mag das alles als wohlgelauntes Finalcapriccio im Reich der alles erlaubenden Fiktion aufnehmen. Lieber will man sich aber verbeugen vor der Radikalität dieser in ihrem Minimalismus so prägnanten Erzählung, die keinen Winkel scheut. Carl-Henning Wijkmark, der für dieses Buch 2007 den bedeutendsten schwedischen Literaturpreis, den August-Preis erhielt, weicht die Komplexität des Themas nicht auf. Und womöglich liegt es sogar gerade an jenem reflektierenden, unbestimmten Tonfall, das einem bisweilen die Kehle eng wird. Bei aller Darstellung verschiedener Positionen überwiegt immer die Nähe zur Figur. Wijkmark lässt sie niemals fallen, während er sie, fast ein wenig zärtlich und alle Launen verständnisvoll hinnehmend wie die beiden Krankenschwestern, durch die Einsamkeit dieser letzten Lebensphase geleitet.

 

Carl-Henning Wijkmark: Nahende Nacht. Roman. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009. 154 Seiten, 17,80 €.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2009

Apr 7 08

John Berger: Mit Hoffnung zwischen den Zähnen

Claus Brunsmann

Buchrezension, WDR 3, Mosaik, Redakteur: Adrian Winkler, Autorin: Anja Hirsch

 

Anmoderation:

Ein Bild ist nicht nur ein Bild. Jedenfalls nicht, wenn der englische Schriftsteller und Kunsttheoretiker John Berger es in Augenschein nimmt. Seine intimen Beschreibungen von Fotografien, Gemälden, von Lebens-Szenen sind Legende. Und sie gehen immer weit über ihren Gegenstand hinaus. Schon früh hat den Friedensaktivisten John Berger dabei stets auch die große Weltpolitik bekümmert: Seinen Beruf als Maler und Zeichenlehrer vernachlässigte er Anfang der 50er, weil er öffentlich Widerstand leisten wollte – als Journalist, der über die nukleare Bedrohung aufklärt. Als er 1972 für seinen experimentellen Roman „G.“ überraschend den Booker Price gewann, sorgte er für einen Skandal, weil er die Hälfte des Preisgeldes an die umstrittene afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung „Black Panther Group“ spendete. Er verließ London und zog in ein kleines französisches Bergdorf in die rauhe Savoyer Landschaft. Von dort meldete sich der heute 81-Jährige immer wieder zu Wort – zuletzt im Dezember 2006 mit einem Boykott-Aufruf gegen die Besatzungspolitik Israels, der auf Störung im Bereich Kultur und Wissenschaft abzielte. Über 80 Künstler wie der Musiker Brian Eno, die Schriftstellerin Arundhati Roy unterstützten diesen Aufruf, der auch auf Kritik stieß. Jetzt kann man in einem neuen Essayband Bergers „Berichte von Überleben und Widerstand“ nachlesen. „Mit Hoffnung zwischen den Zähnen“ heißt der im Wagenbach Verlag erschienene Band, den Anja Hirsch vorstellt.

 

Rezensentin:

Zunächst einmal klagt John Berger global an: den Konsum, den Luxus, die ökonomische wie militärische Tyrannei; und das Schweigen, mit dem der Westen die Konflikte der Welt bemäntelt. Bergers Blick ist aber keineswegs der eines Pessimisten, der das Handwerk der Bauern, das einfache Leben in seinem französischen Bergdorf schätzt und wenig anderes. Seine Betrachtungen fügen sich nicht zur Litanei. Bergers Kritik an den Verhältnissen bildet nur den Anstoß dieser Essays, deren wichtigste Prämisse wohl diese wäre: Es gibt keine Freiheit ohne Handeln. Unpolitisch zu leben ist praktisch unmöglich und schreiben per se, wenigstens bei Berger, über viele Umwege nicht zuletzt auch ein politisches Schreiben. Deshalb ist es geradezu zwingend, dass ein Schriftsteller wie er seinen Blick in den Untergrund, den Widerstand lenkt. Dorthin also, wo Menschen aus der Sehnsucht nach Freiheit zum Handeln gezwungen sind. Und – weil Freiheit und Zwang schon immer ein seltsames Paar bilden – am Ende nur noch ums nackte Überleben kämpfen. Diese Extreme mutet Berger seinen Lesern zu wie sich selbst. Und das bedeutet: Auch die Verzweiflung des Terroristen interessiert ihn. Merkwürdig, dass man stutzt, weil diese Perspektive immer noch wie ein Tabu-Bruch wirkt. Wer aber Bergers Art, zu denken, verstehen will, wird den Schritt mitmachen müssen. Und sollte sich hüten, sofort mit Urteilen bei der Hand zu sein. Denn Berger, das ist seit je seine Stärke, bereitet seine Analysen als Geschichtenerzähler auf, dem keine Perspektive, auch nicht die dunkelste, fremd erscheint.

Flutende Fernsehbilder aus Nahost, denen man kaum mehr die nötige Aufmerksamkeit schenkt, bekommen in seinen klugen, mutigen Texten Kontur. In Standbildern beleuchtet Berger die toten Winkel der Welt.

 

Zitat:

In der schmalen Gasse eines Flüchtlingslagers kauern drei Jungen in einer Ecke am Boden und spielen Murmeln. Viele Flüchtlinge in diesem Lager stammen aus Haifa. Die Geschicklichkeit, mit der die Jungen eine Murmel mit dem Daumen schnippen, während ihr Körper unbeweglich bleibt, zeugt von der Vertrautheit mit sehr beengten Räumen.

 

Rezensentin:

Berger ergreift durchaus Partei und spricht vom „Würgegriff“ Israels. In Ramallah, Sitz der palästinensischen Autonomiebehörde hielt er sich eine Weile auf, um mit Kindern zu zeichnen. Viele seiner Beobachtungen und Schlussfolgerungen rühren von dort her. Einem schlichten Gut-Böse-Schema unterliegt Berger aber nicht. Denn es geht ihm in einem ganz wahrhaftigen Sinn um eine Form des Anteilnehmens, eine Empathiefähigkeit, die man nur mehr selten antrifft. Seine Ansichten, ein Zeitzeugentum, erzählen dabei nicht nur von heute, sondern auch von einer untergegangenen Welt.

 

Zitat:

Lange ist es her, da pflanzten frischverheiratete Paare in den Gärten Ramallahs Rosen als gutes Omen für eine gemeinsame Zukunft. Der Boden des Schwemmlands bekam Rosen.

Im Zentrum von Ramallah (…) gibt es heute keine Mauer, an der nicht die Bilder der Toten kleben – Fotos von ihnen, als sie noch am Leben waren, gedruckt als kleine Plakate.

 

Rezensentin:

Stets bewegt sich Berger in einem Terrain, wo ein Blick zu viel, ein überflüssiges Wort, den Eindruck dieser „Berichte“ ablenken und falsches Pathos hinterlassen würde. Das Faszinierende von Bergers Schaustücken aber ist, wie ihm dieser Drahtseilakt gelingt. Nie fühlt man sich als Voyeur, sondern sanft bei der Hand genommen von einem Erzähler, der unaufdringlich sagt: Hör zu! Was er dem großen Filmemacher Pier Paolo Pasolini, der 1975 ermordet wurde, in einem Gedenk-Text zuschreibt, gilt auch für ihn selbst:

 

Zitat:

Denn die Wirklichkeit ist das Einzige, was uns zu lieben bleibt. Etwas anderes haben wir nicht.

 

Rezensentin:

Aus diesem Untergrund, im ganz wörtlichen Sinn, aus Mauern, Steinen, Begegnungen, meißelt er wie ein Bildhauer seine stillen Beobachtungsstücke. Sie sind, weil sie immer nah am Wirklichen bleiben, deshalb auf den ersten Blick nicht metaphysisch. Und doch verweisen sie auf etwas, das hinter den abgenutzten Begriffen liegt. Vielleicht auch auf etwas Höheres. Berger gibt den Menschen ihre Würde zurück, ohne sich dabei selbst in den Vordergrund zu spielen.

 

Zitat:

In den Ruinen von Kabul sehe ich einen Mann nach Hause gehen, und ich weiß, dass trotz des Schmerzes die Findigkeit der Überlebenden ungebrochen ist. Es ist die Findigkeit des Herumstöberns und Kräftesammelns; und in der List dieser unerschöpflichen Findigkeit liegt ein spiritueller Wert, so etwas wie der Heilige Geist. Davon bin ich überzeugt inmitten dieses Dunkels, auch wenn ich nicht weiß, warum.

 

Rezensentin:

Der Band „Mit Hoffnung zwischen den Zähnen“, den Rita Seuß aus dem Englischen mit musikalischem Sprachgefühl übersetzt hat, versammelt Texte aus den vergangenen acht Jahren. Sie handeln vom Anschlag auf die Londoner U-Bahn vor dem G8-Treffen, vom Wüten des Hurrican Katrina, vom Sturz Saddam Husseins, vom Lebensweg einer alten Russin, die nach der Schlacht um Kursk entschied, Ärztin zu werden. Sie erzählen von der Trauer über den Tod eines Freundes und von der Ermordung eines anderen. Berger erhebt seine Stimme für politische Opfer, für die Menschen, die zum Schweigen gebracht wurden. Er gibt dem Blick von unten Raum, weil er weiß: „Die Mächtigen können keine Geschichten erzählen: Prahlereien sind alles andere, nur keine Geschichten.“ Dass er dabei eben nicht nur erzählt, sondern als Teilnehmender dieser Zeitgeschichte in ihr „liest“ und Missstände beim Namen nennt, auch wenn er manches zwangsläufig vereinfachen muss, macht diese Texte zu Fundgruben. Mit offenen, provozierenden, verletzlichen Stellen, wohl wahr – aber gerade darum geht es: Sie laden zum Weiterdenken, zum Recherchieren, zum Umdenken ein, weil sie nie prahlerisch sind, sondern Kunde von der Scham geben, Mensch zu sein und nicht sein zu dürfen. In diesem Sinne sind sie existentiell, wie viele frühere Arbeiten des Autors. Hinter verschleiernden Begriffen zeigt John Berger die Welt – seine Welt, die auch die unsere ist, wenn wir nur genau hinschauen würden.

 

 

Abmoderation:

John Berger: Mit Hoffnung zwischen den Zähnen. Berichte von Überleben und Widerstand. Aus dem Englischen von Rita Seuß. Wagenbach Verlag, Berlin 2008, 144 Seiten, 15,90 €.

Das englische Original erschien mit einer leicht veränderten Textauswahl 2007 unter dem Titel „Hold Everything Dear. Dispatches On Survival And Resistance“.

 

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